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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nachteiligen Auswirkungen hinterlassen. Das Gesicht von Gentles Gesprächspartner gehörte nicht mehr dem eifrigen, lernbegierigen Novizen aus dem Damals, sondern einem Mann Ende Dreißig.
    »Du hast eben von einer außergewöhnlichen Angelegenheit gesprochen«, sagte der Rekonziliant nach einer Weile und ging zum Du über. »Ich gebe dir recht.«
    »Ich dachte, Sie hätten meine wahre Identität erkannt, ohne sich etwas anmerken zu lassen.«
    »Nein«, erwiderte Gentle. »Übrigens - verzichten wir auf das Sie, einverstanden?«
    Jackeen - beziehungsweise Lucius - nickte andeutungsweise.
    »Bin ich wirklich so anders geworden?« fragte er, und es
    klang ein wenig enttäuscht. »Es dauerte dreiundzwanzig Jahre, bis es mir gelang, das Altern unter Kontrolle zu bringen. Und bisher gab ich mich der Hoffnung hin, mir dabei den Rest meiner Jugend bewahrt zu haben. Ein wenig Eitelkeit -
    entschuldige bitte.«
    »Wann bist du hierhergekommen?«
    »Es scheint ein ganzes Leben her zu sein, und wahrscheinlich ist das auch der Fall. Zuerst reiste ich kreuz und quer durch die Domänen und ging bei verschiedenen Magiern 1139

    in die Lehre. Doch von jedem erwartete ich zu viel. Ich habe sie immer mit Ihnen - mit dir - verglichen, und deshalb war es mir gar nicht möglich, zufrieden zu sein.«
    »Ich bin ein lausiger Lehrer gewesen«, sagte Gentle.
    »Ganz und gar nicht. Du hast mich die Grundlagen gelehrt und mir damit ein gutes Fundament gegeben. Gewisse Leute mögen anderer Ansicht sein, aber ich weiß es besser.«
    »Die einzige Lektion gab ich dir damals auf der Treppe.
    Erinnerst du dich an den letzten Abend?«
    »Natürlich erinnere ich mich. Die Prinzipien des Lernens, die Verwendung von Wissen und der Furcht. Wundervoll.«
    »Die Weisheiten stammten nicht von mir, Lucius, sondern von dem Mystif. Ich habe sie nur weitergegeben.«
    »Das gilt für die meisten Lehrer, oder?«
    »Wirklich gute Lehrmeister erweitern eine Weisheit und geben sie nicht nur einfach weiter. Ich habe nichts erweitert oder verbessert. Ich dachte damals, jedes Wort von mir sei perfekt, weil es von meinen Lippen käme.«
    »Soll das heißen, mein Idol steht auf tönernen Füßen?«
    »Ich denke schon.«
    »Glaubst du etwa, das sei mir nicht klar? Ich weiß, was in der Zuflucht geschah. Ich weiß, daß du versagt hast. Deshalb habe ich hier gewartet.«
    »Ich fürchte, das verstehe ich nicht ganz...«
    »Mir war klar, daß du dich nicht mit dem Fehlschlag abfinden würdest. Die ganze Zeit über bin ich sicher gewesen, daß du neue Pläne schmiedest und irgendwann einen zweiten Versuch unternimmst, vielleicht erst in tausend Jahren.«
    »Irgendwann erzähle ich dir, was damals wirklich passierte.
    Dann bist du bestimmt enttäuscht.«
    »Wie auch immer - jetzt bist du hier«, stellte Lucius fest.
    »Und mein Wunsch geht in Erfüllung.«
    »Welcher Wunsch?«
    »Ich wollte immer mit dir zusammenarbeiten, mit dir das 114
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    Ana aufsuchen und ein gleichberechtigter Maestro sein.«
    Lucius lächelte. »Heute ist Gott im Himmel sichtbar«, fuhr er fort. »Ich könnte gar nicht glücklicher sein. Oh, da sind wir, Maestro.« Er blieb stehen und deutete auf eine Stelle einige Meter vor ihnen. »Dort hat eines der Feuer gebrannt.«
    Die Asche enthielt einige Reste von Nullianac-Kleidung.
    Gentle näherte sich.
    »Als Geist bin ich nicht imstande, die Überbleibsel zu untersuchen, Lucius. Bitte hilf mir dabei.«
    Der andere Mann bückte sich sofort und zog halbverkohlte Fetzen aus der Asche: Reste von Umhängen, Mänteln und Jacken, die verschiedenen Stilen entsprachen. Einige wiesen Stickmuster auf, wie sie in Patashoqua gebräuchlich waren; andere bestanden aus schlichtem Sackleinen. An einem nur halb verbrannten Streifen baumelte Metall - vielleicht war der Eigentümer jenes Kleidungsstücks Soldat gewesen.
    »Allem Anschein nach kamen die Nullianacs aus allen Teilen von Imagica«, sagte Gentle.
    »Sie wurden gerufen«, fügte Lucius hinzu.
    »Durchaus möglich.«
    »Aber warum?«
    Der Rekonziliant überlegte.
    »Ich glaube, der Unerblickte befahl sie in Seinen Ofen, Lucius. Er hat sie verbrannt.«
    »Mit anderen Worten: Er reinigt die Domänen, tilgt das Schmutzige aus ihnen?«
    »Ja. Und die Nullianacs wußten es. Wie Büßer streiften sie die Kleidung ab. Weil sie wußten, daß sie Gottes Urteil erwartete.«
    »Na bitte«, sagte Lucius. »Du bist weise.«
    »Wenn ich fort bin... Würdest du dann diese Überbleibsel vollends

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