Imagica
rechts und links eindämmten, nur Rinnsteine und Mauern, doch hier offenbarte sich die gleiche Zielstrebigkeit wie vorher. Die Strömung führte nach oben und ließ kein Wachstum in die Breite zu. Der Fluß bewahrte seine Kraft und kletterte wie ein Tier, dessen Haut immer dann ruckartig wuchs, wenn es einen 1131
Artgenossen aufnahm und seine Energie absorbierte.
Inzwischen konnte am Ziel der Fluten kein Zweifel mehr bestehen: Weiter oben am Hang gab es nur noch ein nennenswertes Gebäude, den Palast des Autokraten. Der Strom hielt genau auf das Tor zu und würde es auch erreichen, wenn sich unterwegs nicht noch einmal der Boden öffnete, um ihn zu verschlingen.
Judith verband gemischte Gefühle mit jenem Ort. Bei einigen Erinnerungen lief es ihr kalt über den Rücken - der Zapfen, das Flüstern von Myriaden Gebeten -, doch andere zeichneten sich durch eine eher erotische Natur aus: Stundenlang hatte sie in Quaisoirs Bett gedöst, während Concupiscentia sang und ein perfekter Liebhaber ihren Leib mit Küssen bedeckte. Jetzt war er natürlich fort, aber sie würde in das von ihm konstruierte Labyrinth zurückkehren, das nun einem neuen Zweck diente. Und dabei begleitete sie nicht nur sein Duft (der von Celestine erwähnte ›Geruch des Koitus‹), sondern auch das konkrete Ergebnis der Vereinigung, eine Frucht, die unter ihrem Herzen reifte und alle Hoffnungen zerstörte, mit Celestine Weisheit zu teilen. Taylors und Clems Hinweise hatten nichts genützt: Die Befreite behandelte Jude auch weiterhin wie eine Paria. Das Heilige hatte sie nur gestreift, aber trotzdem war sie in der Lage gewesen, Sartori auf Judiths Haut zu riechen. Dieses besondere Aroma entging bestimmt nicht Tishalulles Aufmerksamkeit, was sicher auch für das ungeborene Kind galt. Die Frau aus der Fünften beschloß, alle entsprechenden Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, denn sie glaubte, für ihr bisheriges Verhalten gute Gründen anführen zu können. Nicht mit Entschuldigungen wollte sie an die Altäre der Göttinnen herantreten, sondern mit Demut und Selbstachtung.
Das Tor des Palastes geriet nun in Sicht, und die Fluten strömten ihm entgegen, flossen so schnell, daß weißer Schaum die Wellen krönte. Irgend etwas hatte beide Torflügel aus den 113
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Angeln gerissen, und das Wasser rauschte voller Enthusiasmus durch die Lücke im Wall.
»Wie sollen wir das Tor passieren?« fragte Hoi-Polloi. Der Fluß toste so laut, daß sie schreien mußte.
»Das Wasser ist nicht sehr tief«, erwiderte Judith.
»Gemeinsam gelingt es uns sicher, darin zu waten. Komm, gib mir deine Hand.«
Sie ließ Hebberts Tochter keine Zeit, Einwände zu erheben, griff nach ihrem Unterarm und trat in den Fluß. Sofort fühlte sie ihre Vermutungen bestätigt: Die schäumenden Fluten waren tatsächlich nicht sehr tief, sie reichten ihr nur bis zur Mitte der Oberschenkel. Doch angesichts der starken Strömung mußten die beiden Frauen bei jedem Schritt darauf achten, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Viele kleine Strudel hinderten Jude daran, den Boden zu sehen, aber sie spürte durch die Schuhsohlen, wie sich das Wasser ins Pflaster fraß und eine größere erodierende Wirkung ausübte als die Schritte von Soldaten, Sklaven und Büßern über zwei Jahrhunderte hinweg es getan hatten. Es gab noch andere Dinge, die Judiths und Hoi-Pollois Balance in Gefahr brachten, abgesehen von dieser Erosion. Der Fluß trug nun eine schwere Last aus Almosen, Bittschriften und Abfällen; er hatte sie an fünf oder sechs Stellen in den weiter unten gelegenen Kesparaten gesammelt.
Holzstücke stießen den beiden Frauen an Kniesehnen und Schienbeine; Kleidungsfetzen wickelten sich ihnen um die Beine. Aber Jude setzte auch weiterhin sicher einen Fuß vor den anderen, bis sie durchs Tor waren. Ab und zu wandte sie den Kopf, um Hoi-Polloi einen ermutigenden Blick zuzuwerfen und ihr mit einem Lächeln zu versichern, daß es hier keine echten Gefahren gebe.
Jenseits des Walls ließ die Strömung nicht nach. Ganz im Gegenteil: Sie schien noch mehr Kraft zu gewinnen, und die Wellen wuchsen höher, als sie über die Höfe eilten. Das Licht des Kometen glänzte hier heller als weiter unten am Hang des 1133
Berges, spiegelte sich auf dem Wasser wider und schmückte grauen Stein mit silbernem Filigran. Diese Schönheit lenkte Judith ab, und dadurch rutschte sie aus. Hoi-Polloi rief eine Warnung, aber zu spät. Die Frau aus der Fünften fiel in den Fluß und riß ihre Begleiterin mit
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