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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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letzten Rekonziliationsversuchs, und diesmal wollte Gentle nicht zulassen, daß sie ihn auch nur einen Schritt vom heiligen Pfad abbrachten. Er senkte den Blick, betrachtete seine Leistengegend und empfand Abscheu vor sich selbst.
    »Schneid's ab«, riet ihm Dunkles Loch.
    Gentle wäre bereit gewesen, diesen Rat sofort zu beherzigen, sogar mit Freuden - wenn er sich dadurch nicht verstümmelt hätte. Er brachte dem Etwas, das ihm zwischen den Beinen wuchs, nur mehr Verachtung entgegen. Ein hitzköpfiger Narr hauste dort, und er wollte ihn loswerden.
    »Ich kann's unter Kontrolle halten«, behauptete er.
    »Das möchte ich erleben«, erwiderte das affenartige Geschöpf spöttisch.
    Eine Amsel landete auf einem Zweig des Baums vor dem Haus und stimmte dort ein fröhliches Lied an. Gentle beobachtete den Vogel eine Zeitlang und sah dann zum wie poliert wirkenden blauen Himmel auf. Seine Überlegungen wandten sich vom Konkreten dem Abstrakten zu, und als Clem und Morgan das Frühstück brachten, war die Wollust überwunden. Mit kühlem Kopf begrüßte er die beiden Schutzengel.
    »Jetzt warten wir«, teilte er Clem mit.
    »Worauf?«
    »Auf Judes Rückkehr.«
    »Und wenn sie fortbleibt?«
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    »Sie kehrt heim«, sagte Gentle fest. »Sie kam hier zur Welt.
    Dies ist ihr Zuhause, obgleich sie sich wünscht, das wäre nicht der Fall. Irgendwann kommt sie wieder hierher, da bin ich ganz sicher. Und wenn sie sich gegen uns verschworen und mit dem Feind verbündet hat, Clem..., dann schaffe ich hier einen Kreis.« Er deutete auf die Bodendielen. »Um sie so gründlich aus dem Sein zu tilgen, als hätte sie nie geatmet.«
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KAPITEL 55
l
    Die den Naturgesetzen trotzenden Fluten zeigten Erbarmen.
    Zwar trugen sie Judith mit ziemlich hoher Geschwindigkeit durch den Palast - durch Flure und Korridore, die Bilder, Wandteppiche und Möbel bereits an andere Wellen verloren hatten -, aber sie gingen vorsichtig mit der menschlichen Fracht um. Die Frau aus der Fünften Domäne wurde nicht gegen eine Wand oder Säule geschleudert; sie konnte dem Schiff aus Schaum vertrauen, das mit ihr als Passagier allen Hindernissen auswich und einem Ziel entgegenstrebte, an dem inzwischen kein Zweifel mehr bestehen konnte. Das Geheimnis im Herzen dieses vom Autokraten geschaffenen Labyrinths war von Anfang an der Zapfenturm gewesen. Zwar hatte Judith beobachtet, wie jenes Bauwerk zu bersten und ausein-anderzubrechen begann, doch seine Substanz existierte nach wie vor und stellte ganz offensichtlich den Bestimmungsort dar. Über viele Jahre hinweg hatten Imagicas Gebete im Turm geflüstert, von der Autorität des Zapfens angezogen. Welche Macht auch immer ihn ersetzt und das Wasser gerufen hatte: Sein Thron ruhte auf den Trümmern des gefallenen Herrn.
    Kurz darauf bestätigten sich Judiths Vermutungen, als der Fluß sie aus den nackten Korridoren ins noch strengere Ambiente des Turms trug. Die Wellen wurden allmählich langsamer und glätteten sich; sie brachten Jude zu einem so sehr mit Schutt und Abfällen aller Art gefüllten Tümpel, daß sein Wasser fast breiig anmutete. Eine Treppe ragte aus dieser Masse empor, und die Frau zog sich aus dem zähflüssigen Konglomerat. Sie verharrte auf einer der unteren Stufen und fühlte dabei eine Mischung aus Erschöpfung und begeisterter Aufregung. Die Fluten des Stroms spülten am Tümpel vorbei, 1149

    leckten wie hungrig nach der Treppe, und ihre offensichtliche Absicht, nach oben zu gelangen, erwies sich als ansteckend.
    Schon nach wenigen Sekunden stand Jude auf und stieg die Stufen hoch.
    Zwar brannten hier keine Lampen, aber von weiter oben sickerte genug Licht herab und entfaltete dabei die gleiche prismatische Wirkung wie der Glanz des Kometen über den Quellen von Yzordderrex. Dieser Umstand wies darauf hin, daß es noch mehr Wasser gab, Ströme, die den Palast aus anderen Richtungen erreichten. Bevor Jude die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht hatte, bemerkte sie plötzlich zwei Frauen, die zu ihr heruntersahen. Sie trugen schlichte weiße Hemdkleider. Bei der Dickeren - es handelte sich um eine Frau mit enormen Proportionen - war das Kleid aufgeknöpft: Sie stillte ein Baby. Und sie wirkte fast so infantil wie das Kind in ihren Armen - das Haar flauschig, das Gesicht so fleischig wie die Brüste, die Haut rosarot. Die zweite Frau erwies sich als schlanker und älter und hatte dunklere Haut. Ihr graues Haar reichte offen bis auf die Schulter. Sie trug Handschuhe und eine Brille und

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