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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sich. Zwar bestand nicht die Gefahr, daß sie ertranken, doch die Fluten trugen sie rasch fort und trennten Jude von der leichteren Hoi-Polloi. Vergeblich versuchten sie, in dem allgemeinen Durcheinander auf die Füße zu kommen - zu sehr zerrte die Strömung an ihnen, und außerdem war das Wogen um sie herum ständigen Veränderungen unterworfen. Ein Zufall ermöglichte es Hebberts Tochter, sich an einigen Abfällen festzuhalten, die weiter vorn einen kleinen Damm bildeten. Das Wasser zog zwar mit offensichtlicher Entschlossenheit an ihrem Körper, aber sie leistete hartnäckigen Widerstand. Als sich Judith der Barriere näherte, gelang es Hoi-Polloi gerade, sich aufzurichten.
    »Gib mir deine Hand!« rief sie und wiederholte damit die früheren Worte ihrer Gefährtin.
    Judith kam der Aufforderung nach, streckte den Arm aus und drehte sich dabei halb um. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihre Hand von Hoi-Pollois Fingerspitzen, als sich das Wasser gegen sie verschwor, sie fortstieß und so fest umschloß, daß ihr der jähe Druck die Luft aus den Lungen preßte. Sie brachte keinen Laut hervor, als der Strom sie davontrug, durch einen gewaltigen Torbogen. Die jüngere Frau blieb weit hinter ihr zurück.
    Der Fluß raste durch Kreuzgänge und an Kolonnaden vorbei, doch Judith spürte keine Furcht - die Fluten steckten sie im Gegenteil mit ihrem Enthusiasmus an. Sie war nun Teil der Zielstrebigkeit um sie herum, und der Ruf, dem das Wasser folgte, bezog sich auch auf sie. Von wem immer er ausging, von Tishalulle, Jokalaylau oder einer anderen Göttin: Bald mußte die Entscheidung darüber fallen, wie man Judith an 113
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    diesem Ort empfangen würde, als eine Bittstellerin, die Gehör verdiente, oder als ein weiteres unwichtiges Stück Abfall.
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    Yzordderrex mochte zu einem Ort wundervoller Details geworden sein - jede einzelne Farbe sang; jede Blase im Wasser schimmerte kristallhell -, doch in der Rasur herrschte Ambiguität. Dichte Dunstwolken schwebten in völliger Windstille über den zerfetzten Zelten und den Leichen, die unbegraben in den Resten von Planen lagen. Das Feuer des Kometen genügte nicht, um den Nebel zu durchdringen, der den Glanz aus dem Licht zu filtern schien und nur dumpfes Grau übrigließ. Gentles Phantom ›stand‹ links von der ehemaligen Zeltstadt, starrte durch die Düsternis und erkannte die Konturen des Kreises aus Madonnenfiguren, in dem Athanasius und seine Jünger Zuflucht gesucht hatten. Doch dort zeigten sich keine Spuren des Mannes, den der Rekonziliant hier zu finden hoffte. Auch auf der rechten Seite war nichts von ihm zu sehen, wobei es allerdings zu berücksichtigen galt, daß sich die Sichtweite auf acht bis zehn Meter beschränkte. Gentle wandte sich trotzdem in die entsprechende Richtung und verzichtete darauf, Chicka Jakkeens Namen zu rufen - der Landschaft haftete etwas an, das Schweigen und Stille gebot. Er ging stumm weiter, ohne daß sein substanzloser Körper den Dunst teilte; die Füße hinterließen praktisch keine Abdrücke im Sand. Hier fühlte er sich mehr wie ein Geist als an den anderen Orten, und vermutlich lag das an der Umgebung: Diese Region eignete sich kaum für die Lebenden.
    Nach einer Weile lichtete sich der Nebel, und durch die zerfasernden Schleier sah er Jackeen. Er hatte Stuhl und Tisch aus den Trümmern geholt, saß mit dem Rücken zur Barriere der Ersten Domäne, spielte Karten und führte dabei ein leidenschaftliches Selbstgespräch. Wir alle sind verrückt, 1135

    dachte Gentle, als er Chicka auf diese Weise sah. Tick Raw, der Würstchen und Gurken mit Senf in sich hineinstopfte; Athanasius, der sich ein sakramentales Sandwich genehmigte, während Blut aus den Wundmalen in seinen Händen tropfte; und schließlich Chicka Jackeen, der wie ein neurotischer Affe schnatterte. Alle übergeschnappt. Und vermutlich bin ich noch verrückter als die anderen, überlegte der Rekonziliant. Er hatte ein Geschöpf geliebt das weder männlich noch weiblich war.
    Und ich habe einen Mann geschaffen, der ganze Nationen vernichtete, fügte Gentle in Gedanken hinzu. Es gab nur einen einzigen vernünftigen Aspekt, der wie ein klares weißes Licht in seinem Leben leuchtete und der wohl von Gott stammte: die Aufgabe, Imagicas Einheit wiederherzustellen.
    »Jackeen?«
    Der Mann sah fast schuldbewußt von den Karten auf.
    »Oh - Maestro. Sie sind hier?«
    »Haben Sie mich nicht erwartet?«
    »Nicht so früh. Wird es schon Zeit, daß wir uns zum Ana

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