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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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wiederzufinden. Irgendwie. Irgendwo.
    Ich kannte Deinen vollständigen Namen nicht, wusste anfangs nicht einmal, wie man ›Poul‹ schreibt. Du hättest mit diesem Namen überall auf der Welt leben können. Ich wusste auch nicht, dass die Sprache, in der Du im Tal zu mir gesprochen hattest, dänisch gewesen war. Ich hatte nie zuvor eine fremde Sprache gehört. Zudem spürte ich, dass es mir körperlich immer schlechter ging, aber ich behielt es für mich. Mich beschlich jedoch das Gefühl, gegen die Zeit zu leben. Vor zwei Jahren glaubte ich mich ausreichend genug auf Deine Welt vorbereitet, um in ihr bestehen zu können, und fasste den Entschluss, Grönland zu verlassen. Ich gehöre nicht zu der Sorte Mensch, dem lange, melodramatische Abschiede liegen. Wenn ich das Gefühl habe, es sei an der Zeit zu gehen, dann gehe ich. Man muss loslassen können in Deiner Welt. Das ist eines der Dinge, die ich hier gelernt habe.
    Und man muss Kompromisse schließen. Auch das habe ich gelernt. Ich besaß weder Papiere noch ein Visum und erst recht keine großen Ersparnisse. Ich existierte offiziell nicht in dieser Welt. Du weißt, was so etwas bedeutet, wenn man sich als Frau auf ein Schiff begibt. Ich war gezwungen, für meine Überfahrt einige schmutzige Geschäfte einzugehen, aber ich behielt immer meinen Stolz. Es war der Preis, den Du mir wert warst.
    Der Kapitän war sicher der einzige, der sich wirklich Gedanken um mich machte. Er riet mir, kein westeuropäisches Küstenland zu betreten und notierte mir die Adresse seiner Schwester in Kaliningrad. Er sagte, sie könne mir Papiere besorgen, mit denen ich eine Arbeit finden und etwas Geld verdienen würde. Allerdings lag die Stadt nicht auf der Schiffsroute, und so landete ich (bitte verzeih mir, wenn ich mich aus bestimmten Gründen kurz fasse) nach einer Woche an Bord eines estnischen Frachtschiffes in Riga. Von dort aus schlug ich mich nach Kaliningrad durch und lebte unter der besagten Adresse. Ich begann Dich zu suchen, hoffte, irgendwo in den Medien einen Anhaltspunkt zu finden. Deine Welt ist zwar komplex, doch mit den richtigen Mitteln ist es eine gläserne Welt. Aber ich fand nichts. Und das entmutigte mich immer mehr angesichts der schleichenden Krankheit, die mir zu schaffen macht. Als ich vor drei Monaten schließlich einen Kreislaufschock erlitt und ins Krankenhaus eingeliefert wurde, diagnostizierten die Ärzte bei mir Leukämie im Endstadium.
    Dann jedoch kam der Tag, an dem ich Dein Bild in der Zeitung sah; der Bericht und die Abschlusserklärung des Niels-Bohr-Instituts über den Asqenaesset-Meteoriten. Es war der glücklichste Augenblick meines Lebens, und zugleich der traurigste, denn ich wusste nicht, ob ich Dich noch rechtzeitig finden würde.
    Als Du mich schließlich im Krankenhaus angerufen hast, erkannte ich sofort, dass Du nicht wusstest, wer ich bin. Ich hatte nur das Bedürfnis, Dir rechtzeitig das zurückzugeben, was Dir bei unserer Begegnung am Fluss das Leben gerettet hatte – Deinen Talisman. Doch war es wirklich Dein Talisman? Oder war es meiner? Die Frage, ob er überhaupt existieren durfte, beschäftigt mich, seit ich verstehen gelernt habe, was temporale Rekursion bedeutet. Ich hatte ihn von Dir, Du hattest ihn von mir. Nun ist er wieder verschwunden in der Zeit. Aber woher kam er?
    Nimm all das als kleine Entschuldigung, weshalb ich so viel geweint und Dich so angestarrt habe und nicht recht wusste, was ich sagen soll. Ich weiß beim Schreiben dieser Zeilen nicht einmal, ob dieser Brief nicht für immer ungelesen bleibt, weil Du Deinen Ausflug in meine Welt womöglich nicht überlebt hast. Oder ob Du selbst in einer für Dich fremden Zukunft oder Vergangenheit erwacht bist. Die Gewissheit, dass ES mich lebend ausgespuckt hat, bedeutet noch lange nicht, dass es Dir ebenso erging. Der Gedanke, das Du tot sein könntest, macht mich traurig. Ich bete, dass Du lebst.
    Eines solltest Du wissen: Ab heute, dem Tag Deiner Rückkehr, bleiben Dir wahrscheinlich nur noch zehn Jahre. Vielleicht ein paar mehr, vielleicht ein paar weniger. ES hat Dich berührt. ES ist in Deinem Blut. ES wird Dich krank machen. Unheilbar krank. Nutze die Zeit, die Dir bleibt, so intensiv Du kannst. Ich sagte zu Dir, Du seiest für ein höheres Ziel bestimmt. Ich hoffe, dieses Ziel hat sich zu erkennen gegeben. Und wenn es einzig das Ziel war, mich einen Blick in diese Zeit werfen zu lassen, mir ein kurzes Leben in Deiner Welt zu schenken und ihre Wunder erfahren zu

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