Imagon
sein.«
Der Arzt ersparte sich den Anblick, den der langsam von meiner Haut gleitende Schaum zunehmend bot. Statt dessen sammelte er seine Notizen und Computerausdrucke vom Boden auf. »Aber ich werde mich trotzdem nicht scheuen, eine Antwort auf das zu finden, was Sie einen ›Plan‹ nennen«, meinte er zum Abschluss. »Ich ziehe es vor, Analytiker zu bleiben. Es gibt eventuell eine Möglichkeit, hinter den Sinn des Ganzen zu kommen, doch dazu benötige ich Ihr Einverständnis. In Ihrem eigenen Interesse sollten Sie ihr zustimmen.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was schwebt Ihnen im Sinn?«
Rijnhard verzog die Lippen. »Hypnose.«
Ich hätte nackt durch den Eiskrater spazieren oder auf glühenden Kohlen schlafen können. Ich wusste nicht, ob es warm oder kalt war in meinem Container. Ich fühlte die Kleidung nicht auf meiner Haut. Meine Augen waren trocken und brannten, daher vermutete ich, dass die Luft warm war. Ich musste meinen Händen zusehen, als ich Naunas Brief aus der Schublade zog und ihn öffnete. Hätte ich es nicht getan und die Augen geschlossen gehalten, hätte ich nicht gewusst, ob ich das Kuvert oder die Bedienungsanleitung der Amstrad-Satellitenanlage aufriss. Ich konnte physisch nichts mehr fühlen. Es war ein deprimierender Mangel an Gefühl …
Der so lange unter Verschluss gehaltene geheimnisvolle zweite Brief war weitaus länger und mit sichererer Hand geschrieben als der, den ich unmittelbar nach Naunas Tod gelesen hatte. Sie musste ihn verfasst haben, als wir uns – zumindest in dieser Zeit – noch nicht persönlich gekannt hatten, oder sie für kurze Zeit bei besserer Verfassung gewesen war. Vielleicht hatte sie ihn bereits vor Jahren geschrieben, in der stillen Hoffnung, mich eines Tages doch noch irgendwo auf dieser Welt zu treffen.
Lieber Poul, begann dieses letzte unerforschliche Kapitel unserer so rätselhaften Beziehung. Nun, da Du diesen Brief geöffnet hast und diese Zeilen liest, werden wir uns begegnet sein, an einem Gebüsch neben einem Fluss, der von einem Gletscher gespeist wurde. Jetzt weißt Du, woher ich Dich wirklich kenne und warum ich Dich in meinem ersten Brief bat, diesen hier erst zu lesen, wenn die Zeit gekommen ist. Zugegeben, es hätte zu unglaubwürdig geklungen, Dir die Wahrheit zu erzählen. Ich wollte mich nicht lächerlich machen. Seit zehn Jahren habe ich nach Dir gesucht und gehofft, in derselben Zeit gestrandet zu sein, in der Du lebst.
Ja, ich war es, der Du damals in ferner Vergangenheit begegnet warst, die siebzehnjährige Frau, die Dich aus dem Gebüsch gescheucht und fast aufgespießt hatte. Vor achttausend Jahren, Poul … ist das nicht verrückt? Nun bin ich siebenundzwanzig. Leider werde ich nie erfahren, was Dich in meine Welt verschlagen hat. Warum wir uns begegnen mussten. Welche Geschehnisse in Deiner Gegenwart dafür verantwortlich sind, und welchem Zweck sie dienen. Warum es mich ebenfalls in die Zukunft geschleudert hat. Vielleicht war alles nur eine kosmische Allüre. Oder doch Vorhersehung?
Als ich vor zehn Jahren halb erfroren von einem Jäger im Eis gefunden und nach Mestersvig gebracht wurde, war alles so fremd und verwirrend. Ich glaubte, in der Welt der Aqunaki erwacht zu sein und ahnte, dass ich nie mehr in meine Heimat, meine eigene Welt und – wie ich viel später erfuhr – in meine Zeit zurückkehren könne. Womöglich war es auch besser so, denn hier war ich keine Ausgestoßene mehr.
Ich möchte jedoch, dass Du etwas weißt: Ich trug damals ein Kind in mir. Unser Kind, Poul. Ich habe lange versucht, diese Sache zu verdrängen, zu vergessen. Manchmal sucht mich die Erinnerung daran noch heim, doch inzwischen komme ich besser mit ihr klar. Bitte verzeih mir, dass ich nicht mehr darüber schreiben möchte. Ich habe das Kind wenige Monate nach meiner Ankunft im Dorf verloren. Es ist Vergangenheit …
Die Menschen, die mich aufnahmen, lehrten mich viel von dem, was man über das Leben in dieser Welt wissen muss. Im Laufe der Jahre wurde ich ein Mitglied der Familie jenes Jägers, der mich gefunden und bei sich aufgenommen hatte. Man brachte mir die moderne Inuit-Sprache bei, doch ich wusste, dass sie allein eine Isolation bedeutete. Heimlich lernte ich daher auch Englisch. Der Dorflehrer brachte es mir bei, da meine Zieh-Familie es ebenso verachtete wie das Dänische. Im Laufe dieser Jahre kam ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass ES uns in dieselbe Zeit geschleudert hat. Mein Wunsch war, Dich
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