Imagon
zwei Stunden abzuschalten. DeFries war nicht sonderlich begeistert gewesen und hatte mir nur eine Stunde zugestanden.
»So lange benötigt das Wasser in etwa, um die Strecke bis zur Kratermitte zurückzulegen«, hatte er erklärt. »Bis Sie Ihre Messgeräte abgelesen und ihr kleines Experiment an der Mühle vorbereitet haben, wird der Bach dort versiegt sein. Wir werden etwa zur selben Zeit wieder mit der Arbeit beginnen. Sie haben also eine Stunde.«
»Was für eine Mühle?«, hatte Chapmann gefragt.
DeFries hatte daraufhin nur die Augenbrauen gehoben und gesagt: »Beeilen Sie sich, Poul. Eine Stunde ab jetzt, mehr nicht.«
Mit dem Skidoo waren wir zuerst zu den tags zuvor aufgestellten Spektrometern gefahren. Ich hatte den Laptop nacheinander an jedes Gerät angeschlossen, die ersten Messwerte abgespeichert und die Geräte nachjustiert. Chapmann hatte sich über die verschlackte Oberfläche des Mount Umos ebenso gewundert wie über die tiefe Eisspalte, die ihn umgab.
»Das ist weitaus mehr, als ich erwartet hatte«, hatte er gestanden, nachdem er über den glasartigen Bergrücken geklettert war. »Ein eindeutiges Indiz dafür, dass hier ein sehr heißes Objekt runtergekommen sein muss.«
»Warten Sie’s ab«, hatte ich entgegnet. »Das Beste kommt noch.«
Nun kauerte Chapmann am Rand des Schlucklochs und starrte in die Tiefe. »Wissen Sie, wo ich so etwas Ähnliches schon einmal gesehen habe?«, fragte er, als er sich mit ernster Miene wieder erhoben hatte. In seinen Augen glomm ein schwer zu definierendes Funkeln. »In einer gefrorenen Coca-Cola-Dose.«
Ich runzelte verärgert die Stirn.
»Ich mache mich nicht über Sie lustig, Poul. Es war nur mein erster Gedanke.« Sein Blick haftete weiter an dem Schlund. »Das hier ist beeindruckend, ohne Zweifel. Und paradox. Hat schon jemand ausgelotet, wie tief es da runtergeht?«
»Nein. Womöglich bis zum Felsboden.«
»Oder zumindest bis zu dem Objekt, das für diesen Krater verantwortlich ist.« Chapmann nickte, und ich konnte spüren, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Ich komme aus Fort Worth in Texas. Wir haben dort verdammt warme Sommer, das kann ich Ihnen sagen. Als Junge hatte ich mir mal ein paar Dosen Cola ins Eisfach gelegt, damit sie schneller abkühlen. Eine der beiden trank ich nach einer halben Stunde, die andere vergaß ich herauszunehmen. Sie lag die ganze Nacht drin und fiel mir erst am nächsten Tag wieder ein. Also stürzte ich zum Kühlfach und holte sie heraus. Ihr Inhalt war gefroren, aber sie war nicht geplatzt. Daher zog ich, unerfahren wie ich war, den Verschluss auf. Was mir daraufhin entgegenschoss, war eine tiefbraune Fontäne aus Kohlensäuregas, Sirup und Farbstoff. Die ganze Küchendecke troff von dem Zeug. Als ich meinen Schrecken überwunden hatte, entdeckte ich, dass fast die gesamte Flüssigkeit in der Dose gefroren war, und zwar von außen nach innen. Nur in der Mitte, wo sich das komprimierte Gas gesammelt hatte, war ein bleistiftdünner frostfreier Kanal übriggeblieben.«
»Sie glauben, dass hier nach dem Erstarren des Sees so etwas wie im Wasser gebundenes Gas entwichen sein könnte?«
»Ich glaube gar nichts, Poul. Es war nur ein Vergleich. Sollte er zutreffen, müsste der Kratersee von den Rändern beginnend zur Mitte hin zugefroren sein, auf ein großes, heißes Objekt zu, das auf seinem Grund liegt. Vielleicht ist der See sogar ab einer bestimmten Tiefe noch flüssig.« Mein Gesichtsausdruck musste zwischen Skepsis und hellwachem Interesse schwanken, denn Chapmann setzte nach: »Es ist wohl einleuchtend, dass ein Schmelzwassersee von über achthundert Metern Tiefe und über sechs Kilometern Durchmesser normalerweise nicht in nur drei Monaten wieder vollständig gefriert. Vielleicht bewegen wir uns auf einer fünfzig, vielleicht sogar einhundert Meter dicken Eisdecke, aber nicht auf massivem Eis. Wasser hat eine höhere Dichte und folglich ein geringeres Volumen als Eis. Es ist theoretisch möglich, dass der Grund des Sees vor Monaten, also kurz nach seinem Entstehen, noch wesentlich tiefer lag und seitdem langsam wieder ansteigt. Dass die Eiskruste unmittelbar an seinem Rand nur wenige Meter dick ist, weil dort das Wasser vom ständig schwerer werdenden Eis nach oben gedrückt wird. Ich kann mir sogar vorstellen, dass nur ein Bruchteil der ursprünglichen Eismasse beim Aufschlag von was auch immer verdampft und in die Atmosphäre entwichen ist, und dass der Boden, auf dem wir stehen, fast übergangslos mit
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