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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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nur sagen, was die Einheimischen im Lager über ihn erzählen. Anscheinend ist er hier in Tunu so etwas wie ein geistiger Würdenträger. Es käme leider einem Eklat gleich, ihn zum Teufel zu jagen. Das wäre fast, als würde man den Papst aus Rom vertreiben.« Er zog seinen Flachmann aus der Jacke und setzte ihn an die Lippen. Ich sah seinen Kehlkopf zwei-, dreimal auf und ab hüpfen.
    »Was heißt Tunu?«, fragte ich, als er zufrieden aufstieß und mit leerem Blick auf meine Stiefel starrte.
    »Anus Mundi.« Rijnhard sah mich an und verzog seine Lippen zu einem wehmütig-abfälligen Grinsen. »Der Arsch der Welt. So wird dieser Landstrich von den Dänen genannt, die seit Jahren hier leben. Tunu bedeutet ›Der Rücken des Landes‹, die Ostküste Grönlands im hiesigen Inuit-Dialekt. Talalinqua ist ein Schamane, wie Sie bereits wissen, ein grönländischer Klekihpetra oder so etwas. Die anderen dort draußen sind sein Hofstaat, seine Adepten.«
    »Ich glaube, ich habe bei meiner Ankunft auch Frauen gesehen …«
    »Dann haben Sie sich von diesen Pfannkuchengesichtern täuschen lassen. Im Umkreis von fünfzig Kilometern gibt es keine Frau. Sie erkennen eine Eskimofrau an ihren Tätowierungen zwischen den Augenbrauen und auf dem Kinn. Von Talalinqua jedenfalls erzählt man, er könne in Trance bis auf den Meeresgrund reisen. Meiner Meinung nach träumt er nur etwas zu lebhaft. Bei einer dieser Traumreisen, so erzählen einige der Inuit, die für uns arbeiten und sich gelegentlich mit Talalinquas Gefolge austauschen, hat er vor Wochen ein mächtiges Tier im Meer getroffen, dessen alleiniger Anblick ihn aus der Trance gerissen und dadurch fast getötet hätte. Leider ist das nicht passiert. Wie dem auch sei, kurz darauf hat er sich auf den Weg hierher gemacht, und so weiter.«
    »Ein mächtiges Tier im Meer?«, hakte ich nach. »Einen Wal, oder was?«
    »Die Inuit tuscheln von einem aggaujaq taqrak.« Rijnhard sah mich argwöhnisch an. »Sie glauben doch diesen Schwachsinn nicht etwa, oder?«
    »Tut mir Leid, ich verstehe kaum ein Wort Inuktitut. Was soll das für ein Tier sein?«
    »Aggaujaq heißt soviel wie Sternfisch … oder Fisch von den Sternen, was weiß ich. Ein Tintenfisch vielleicht, oder ein Riesenseestern. Taqrak bedeutet Schatten oder auch Spiegelbild. Setzen Sie sich das zusammen, wie Sie’s brauchen. Warum Talalinqua hier ist, weiß keiner von uns so genau, nicht einmal die Inuit, die für uns arbeiten. Er beschwört tagtäglich die Sonne, nicht unterzugehen, dieser Verrückte.«
    »Das hat mir DeFries bereits erzählt. Mich würde weitaus mehr interessieren, wieso er das macht.«
    Rijnhard zuckte die Schultern. »Fragen Sie den Kerl doch selbst. Bringen Sie ihm einen rohen Fisch mit, als Versöhnungsgeste. Ich muss wieder an die Arbeit.«
    Er stand auf und verabschiedete sich mit einem lässigen Wink. Ich hingegen machte mir groteskerweise Gedanken über den Stand der Sonne. Schon jetzt wirkte es, als rolle sie nachts für ein paar Minuten über den Eisschild, ehe sie langsam wieder emporstieg.
    Die sich zum Landesinneren hin auftürmende Inlandeiskappe verzerrte den eigentlichen Horizont nach oben. Nicht mehr lange, und die Sonne würde – zumindest für uns hier auf der grönländischen Ostseite – untergehen, sobald sie nachts hinter den Eisschild sank. Auf dem 72. Breitengrad endete die astronomische Zeit der Mitternachtssonne erst am 4. Juli – in elf Tagen …
     
    »Das ist wirklich ein tiefes, dunkles Loch …« Chapmann atmete hörbar, was seine Erregung deutlich machte. »Jesus«, murmelte er, ging auf die Knie und kroch zum Rand des Schlucklochs. »Jesus …« Das amüsierte, fast schon hochnäsige Grinsen, das ihm während der letzten Stunde angehaftet hatte, war aus seinem Gesicht gewichen. »Das dürfte niemals hier sein.«
    »Ich weiß«, stimmte ich zu und hob das Stativ aus dem Lastschlitten. »Aber es ist da.«
    Wie vereinbart hatte ich mich mit Chapmann im Lager getroffen und gemeinsam mit ihm die Ausrüstung in den Krater hinabgetragen. Das Gefährt unter der Kunststoffplane hatte sich tatsächlich als Motorschlitten entpuppt. Es war ein großer schwarzer Skidoo, auf dessen Sattel bis zu drei Personen Platz fanden. Mit dem Schneemobil hatten wir zugleich den Lastschlitten enthüllt und das gesamte Material darin verstaut. Chapmann hatte vergeblich versucht, DeFries zu überreden, einen Blick in den Tempel werfen zu dürfen, nachdem ich ihn gebeten hatte, die Pumpen für etwa

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