Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
pünktlich um 10.00 Uhr zu diesem Gespräch. Er erklärte in einer äußerst arroganten und provozierenden Weise, daß er, bevor etwas besprochen werde, eine Forderung zu stellen habe: ›Ich verlange, daß die Verleumdungen und Denunziationen gegen meine Person durch den Vorstand zurückgezogen werden.‹«
Jemand erklärte dem Vater, »daß erstens seine Darstellung nicht den Tatsachen entspreche und daß zweitens er Schädlichs Buch gelesen habe und zu seiner Meinung stehe, daß es sich um eine antisozialistische Lektüre handele«.
Daraufhin entwickelte sich eine heftige Diskussion, die »darauf hinauslief, eine Kritik an seinem Buch und seiner Person zu unterbinden, da er mit einer solchen Diskussion zum Feind der DDR abgestempelt werde, der er in Wirklichkeit nicht sei«.
Der Vater vertrat »folgende feindliche Auffassungen:
Es ist die Aufgabe des Schriftstellers, die Wahrheit ans Licht zu bringen
Bei uns gibt es viele Tabus, durch die so manches verdeckt wird, damit muß sich der Schriftsteller auseinandersetzen und die Öffentlichkeit darüber informieren
Sein Buch ist daher ein kritisches Buch, aber kein feindliches.«
Der Vater bekräftigte seine Forderungen noch einmal, das Gespräch wurde beendet.
»Ich fühlte mich wie ein Delinquent vor Gericht, es war sehr unangenehm. Die haben sich Macht angemaßt und ausgeübt«, erzählt der Vater.
Am 1. Dezember rief Gaus an. Er könne unverbindlich sagen, dass sich eine positive Lösung einzustellen scheine. In den nächsten Tagen käme ein Anruf. Er sagte nicht, von wem. Der Anruf kam noch am selben Tag. Es war Wolfgang Vogel, der dem Vater sagte, er solle ihn am 2. Dezember in Teupitz anrufen. Er könnte dem Vater dann vielleicht eine günstige Nachricht übermitteln. Am 2. Dezember um 10.15 Uhr rief der Vater an. Vogel sagte, der Vater bekäme in den nächsten Tagen einen Anruf. Man werde sagen, das Ausreiseverfahren werde eingeleitet. Man werde sagen, die Sache sei noch nicht endgültig entschieden. Vogel sagte, der Vater solle es so nehmen, wie er es ihm sage. Der Vater solle sich weiterhin ruhig verhalten. Es werde relativ schnell gehen. Der Vater solle auf alles, was verlangt werde, eingehen.
Um 10.50 Uhr desselben Tages meldete sich die Abteilung Innere Angelegenheiten des Stadtbezirks Köpenick, eine Frau aus Zimmer 207 war am Apparat. Die Eltern sollten sofort kommen.
Ich lese: »Am 2.12.1977 um 11.30 Uhr sprach das Ehepaar Schädlich aufgrund unseres telefonischen Anrufes in unserer Dienststelle vor. Entsprechend der gegebenen Weisung wurde ihnen gesagt, daß wir das Ersuchen auf Übersiedlung nochmals geprüft haben und jetzt entschieden hätten, dieses Ersuchen zu genehmigen. […] Wir haben der Fam. Schädlich zugesagt uns am Montag, dem 5.12.77 mit dem VEB Autotrans in Verbindung zu setzen und dafür zu sorgen, daß entsprechend seiner Bitte umgehend Packer geschickt werden. Sie wurden aufgefordert, über das Wochenende Aufstellung über das Umzugsgut sowie über die mitzunehmenden Bücher zu fertigen. Am Montag, dem 5.12.77 um 14.00 Uhr wird Dr. Schädlich wieder bei uns vorsprechen und berichten wie weit er mit der Listenfertigung ist, gleichzeitig wird er die fehlenden Unterlagen, wie Schuldenfreiheitserklärung der Sparkasse, Lebensläufe, Urkunden und Passbilder abgeben.«
Das war der Montag, an dem ich es erfuhr.
Und nun fuhren wir schweigend durch die Dunkelheit. Wie oft haben wir uns in der Familie die Frage gestellt, was wäre gewesen, wenn der Vater nicht 1977 sein Buch bei Rowohlt veröffentlicht hätte? Was wäre gewesen, wenn wir nicht 1977 aus der DDR ausgereist wären, trotz der Veröffentlichung des Buches? Nichts ist so uneindeutig wie der Konjunktiv, besonders, wenn er das Leben betrifft. Wir beantworteten uns die Fragen immer wieder, als müssten wir uns gegenseitig versichern, dass es die richtige Entscheidung war. Dabei kann es gar keinen Zweifel geben. In der DDR konnte der Vater nicht mehr arbeiten. Er hatte sich sogar um Arbeit als Chauffeur oder Taxifahrer bemüht, vergeblich, weil er dafür eine zu hohe Qualifikation habe, hieß es. Der Ausreiseantrag war eine Folge der Existenzentziehung, eine logische Konsequenz, damit die Familie weiterleben konnte. Man hatte keine Wahl, höchstens die Wahl des Zeitpunktes.
Je näher wir Hamburg kamen, desto hinfälliger wurde der Wagen. Laut wie ein Traktor fuhr er mit vier Ostdeutschen in die Stadt ein, und sie bewunderten die Reklamen, die Helligkeit der
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