Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
netten Brief erhalten. Ich danke Dir sehr. Mir geht es sehr gut. Du fehlst mir auch sehr. Das Wetter ist mal kalt mal warm. In unserer Klasse ist was los. P. hat G. als Freundin, und J. hat sich mit S. verzangt weil J. mit uns Schlafen wollte (bei der Klassenfahrt). Aber wir schlafen mit S.. Wir machen vom 5.5. bis 7.5. eine Klassenfahrt nach Rostock. Das wird toll sage ich Dir. D. geht es sehr gut, aber er muß öfters brechen. In Deutsch machen wir zur Zeit gar nichts. Unsere Klassenlehrerin ist krank und fährt zur Kuhr. Wir haben eine ganze menge an Stundenausfall zum Beispiel viel Deutsch, Mathemathik und Werken.«
Auch den fand ich in den Akten. Wenn der Brief mich erreicht hätte, hätte ich geschrieben, dass ich viel zu lange nach Wewelsfleth in Hamburg nicht zur Schule gegangen war. Dass ich nun in eine Schule ging, nicht weit vom Nagelsweg in das Gymnasium Klosterschule, dass dies aber nichts mit Gott zu tun hätte, dass die U-Bahn rot-silbern war und nicht gelb und dass ich auch gerne mit nach Rostock käme. Wie nah das wäre von Hamburg. Ich hätte geschrieben, dass die Schülerin aus der DDR, die kein Englisch konnte, sondern Russisch, die noch kein Physik, kein Chemie gehabt hatte, sondern Werken und Unterricht in Staatsbürgerkunde, sich aufmachte, Englisch zu lernen. Und ich hätte von der Schwester geschrieben, die von einem Kindergarten in den nächsten wechselte. Erst einer gleich um die Ecke, bis die eine Kindergärtnerin sagte, die kommen aus der Zone. Der nächste in der obersten Etage eines Hochhauses, der Garten die Dachterrasse, an den Wänden gemalte Bäume. Soweit kommt es noch, dass sie im Westen keinen Baum mehr sehen konnte, dachten wir. Dann ein katholischer Kindergarten, dort musste sie beten. Das passte ihr nicht, auch nicht nach nur vier Jahren DDR. Von Gott noch nie etwas gehört und ständig die Frage: Wer ist dieser Mann?
Um Englisch aufzuholen, ging ich dreimal die Woche nachmittags zu einer Nachhilfelehrerin. Anfangs brachte mich die Mutter. Eines Tages kamen wir an einem Geschäft für Schreib- und Spielwaren vorbei. Die Mutter schrie auf: »Das ist doch Betty.« Sie ließ meine Hand los, rannte in den Laden, der Frau hinterher, die in einem Büro verschwunden war. Die Verkäuferinnen wollten sie zurückhalten. »Das ist Betty, mein Kindermädchen«, rechtfertigte sich die Mutter. Sieben Jahre war sie alt gewesen, als sie Betty zuletzt gesehen hatte. Jetzt trafen sich die beiden hier in einem Laden wieder, und ich musste denken: »Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen.«
Ich holte nicht nur Physik, Chemie und Englisch nach, sondern lernte auch neue Kinder kennen. Langsam nur, scheu. In der Klasse waren Kinder von griechischen Eltern, von italienischen. Die Kinder unterhielten sich über Fernsehserien, Stars, Musikbands. Mein Liedrepertoire beschränkte sich auf Pionierlieder. Nicht Pierre Brice war der Star gewesen, sondern Gojko Mitic. Nicht Lex Barker mit schmetternder Hand, sondern Dean Reed mit kommunistischer Gitarre. Die Kinder kleideten sich in Jeans und coolen Turnschuhen, ich war froh, dass ich gerade das Pionierhalstuch für immer hatte ablegen können, hatte es in der DDR gelassen, wo es hingehörte. Die Fragen stellte ich. Nach den Stars, den Fernsehserien, den Bands. Ich hatte so viel nachzuholen, nicht nur Schulstoff. Keiner fragte nach der DDR, die lag so weit weg, dass sie für viele gar nicht existierte. Wenn die DDR aber nicht existierte, wo kam ich dann her? Von nirgendwo. Vom Himmel hoch. Nicht Weihnachtsengel, sondern Jahresendflügelfigur. Ich, wir waren hinzugekommen in diesen anderen Teil Deutschlands, wir mussten hinzulernen, nicht die, die schon da waren. Und weil ich Deutsch sprach, fiel ich nicht auf. Dann eine Vier, die erste in meinem Leben, in einem Deutschaufsatz, Thema verfehlt. Ich verstand die Welt nicht mehr. Die Mutter las den Aufsatz, sie konnte es auch nicht begreifen. Sie bat um ein Gespräch mit der Lehrerin, so wie früher in der Mittelheide, weil ich mich dort geweigert hatte, neben einem Mädchen zu sitzen, das Läuse hatte. Ich bekam einen Eintrag: Susanne verhält sich nicht sozialistisch. Der Eintrag wurde nicht zurückgenommen, und ich musste mich entschuldigen. In Hamburg entschuldigte sich die Lehrerin bei der Mutter. Sie hätte mich behandelt wie eine Schülerin aus einem anderen Bundesland. Auf einen griechischen Jungen hätte sie mehr Rücksicht genommen, aber ich spräche ja nicht einmal einen Dialekt.
Ich
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