Imperium
ist, sind bruchstückhafte Szenen, die gespenstisch gleißenden Halluzinationen aus einem Fiebertraum gleichen. Ich erinnere mich an Lucius ' dürre und ausgezehrte Gestalt, als wir ihn fanden; daran, dass er auf der rechten Seite lag, in seinen eigenen Exkrementen, die Knie hochgezogen, die linke Hand auf die Augen gedrückt. Ich sehe noch vor mir, wie Cicero sich über ihn beugte, ihm mit einer Kerze ins Gesicht leuchtete und immer wieder seinen Namen rief, als ob er ihn so ins Leben zurückholen könnte. »Was hat er gesehen?« Das sagte Cicero immer wieder. »Was hat er gesehen?« Wie ich schon berichtet habe, war Cicero kein abergläubischer Mensch, aber er konnte sich einfach den Gedanken nicht aus dem Kopf schlagen, dass Lucius vor seinem Ende eine beispiellos schauerliche Vision gehabt haben müsse, die ihn zu Tode erschreckt habe. Was die Ursache seines Todes betrifft, so muss ich gestehen, dass ich all die Jahre ein Geheimnis mit mir herumgetragen habe, von dessen Bürde ich mich hiermit nur zu gern befreie. In einer Ecke des kleinen Raumes lagen ein Mörser, ein Stößel und etwas, das Cicero - und zunächst auch ich - für einen Bund Fenchel hielt. Eine logische Annahme, da zu Lucius ' zahlreichen chronischen Leiden auch Verdauungsbeschwerden gehörten, die er mit einer Fencheltinktur zu lindern suchte. Erst später, als ich das Zimmer ausräumte und ein paar der gefiederten Blätter mit dem Daumen auf meiner Handfläche zerrieb, stieg mir ein grässlicher Geruch nach Moder und toten Mäusen in die Nase: Schierling. Da wusste ich, dass Lucius aus welchen Gründen auch immer - Verzweiflung über die Ungerechtigkeit der Welt oder die Schmerzen, die ihm seine Krankheiten bereiteten - vom Leben genug gehabt und den gleichen Tod gewählt hatte wie sein Idol Sokrates. Obwohl ich vorgehabt hatte, Cicero und Quintus von meiner Entdeckung zu erzählen, brachte ich es in diesen Tagen der Trauer nicht über mich, und schließlich schien mir der passende Moment verstrichen zu sein, und ich hielt es für besser, die beiden im Glauben zu lassen, Lucius sei nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Ich entsinne mich auch noch daran, dass Cicero viel Geld für Blumen und Weihrauch ausgegeben hatte. Lucius lag in seiner besten Toga, gewaschen und gesalbt, die schmalen Füße Richtung Tür, auf der Totenbahre, und obwohl es ein grauer Novembertag war, duftete es wie in einem elysischen Wäldchen. Ich erinnere mich an die für einen Mann, der so zurückgezogen gelebt hatte, große Zahl an Freunden und Nachbarn, die ihm die letzte Ehre erwiesen und sich dem Leichenzug hinaus zum Campus Esquilinus anschlossen. Ich sehe noch den jungen Frugi vor mir, der nicht aufhören konnte zu weinen. Ich erinnere mich an die Klagelieder und die Musik, an die respektvollen Blicke der Bürger am Wegesrand - schließlich handelte es sich um einen Cicero, der nun auf dem Weg zu seinen Vorfahren war, und der Name galt inzwischen etwas in Rom. Auf dem gefrorenen Feld lag der Körper auf dem Scheiterhaufen, und der große Redner versuchte sich an einer kurzen Lobrede. Doch die Worte wollten ihm nicht gehorchen, und er verstummte. Er war nicht einmal in der Lage, das Holz zu entzünden. Er gab die Fackel an Quintus weiter, der das für ihn erledigte. Als die Flammen hoch aufloderten, streuten die Trauernden duftende Gewürze ins Feuer, und der parfümierte, von orangen Funken durchsetzte Rauch stieg hinauf zur Milchstraße. An jenem Abend diktierte mir der Senator in seinem Arbeitszimmer einen Brief an Atticus, und es ist sicher der Zuneigung geschuldet, die Lucius auch in dessen Herzen entfacht hatte, dass dies der erste von den Hunderten von Ciceros Briefen war, den Atticus aufbewahrte.
»Du kennst mich so gut, dass du besser als die meisten ermessen kannst, wie tief mich der Tod meines Vetters Lucius trifft, welchen Verlust er für mein öffentliches wie privates Leben bedeutet. All die Freude, die einem Menschen Freundlichkeit und Wärme bereiten können, habe ich von ihm empfangen.«
Obwohl Lucius viele Jahre in Rom gelebt hatte, war es immer sein Wunsch gewesen, dass seine Asche in der Familiengruft in Arpinum beigesetzt werden sollte. Also machten sich die Cicero-Brüder, die ihren Vater schon vorab über ihr Kommen informiert hatten, am Morgen nach der Einäscherung zusammen mit ihren Frauen auf die Dreitagesreise Richtung Osten. Trauerzeit hin oder her, Cicero konnte es sich nicht erlauben, seine anwaltschaftliche und
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