Imperium
Obwohl niemand sein rhetorisches Talent anzweifelte, so war seine Konstitution doch zu schwächlich, als dass sie seinem Ehrgeiz ebenbürtig gewesen wäre. Mehrstündige Verteidigungsreden - zu jeder Jahreszeit, oft unter freiem Himmel - beanspruchten seine Stimmbänder derart, dass er nicht selten tagelang heiser und ohne Stimme war. Zudem litt er unter chronischer Schlaflosigkeit und einer schwachen Verdauung. Kurzum: Wollte er, wie es sein sehnlichster Wunsch war, politische Karriere machen, so benötigte er professionelle Hilfe. Also beschloss Cicero, Rom für einige Zeit zu verlassen und zu reisen. Erstens, um seine Kräfte aufzufrischen, und zweitens, um die führenden Lehrmeister der Rhetorik zu konsultieren, von denen die meisten in Griechenland und Kleinasien lebten.
Als Verantwortlicher für die kleine Bibliothek seines Vaters verfügte ich über eine passable Kenntnis des Griechischen, und deshalb bat Cicero seinen Vater - ganz so, als wollte er sich ein Buch aus dem Regal nehmen -, ob er mich ausleihen und mit in den Osten nehmen könne. Meine Aufgabe würde unter anderem darin bestehen, mich um seine Termine zu kümmern, Transportmittel anzuheuern und Lehrer zu bezahlen, wobei geplant war, dass ich nach einem Jahr wieder zu meinem alten Herrn zurückkehren sollte. Am Ende sollte ich, wie so manches nützliches Buch auch, nie zurückgegeben werden.
Am Tag, als wir in See stechen wollten, fanden wir uns im Hafen von Brundisium ein. Das war im sechshundertfünfundsiebzigsten Jahr nach der Gründung Roms, in der Zeit des Konsulats von Servilius Vatia und Claudius Pulcher. Damals war Cicero noch nicht die imposante Gestalt, zu der er später wurde und deren Züge so bekannt waren, dass er nicht mal durch die ruhigste Straße spazieren konnte, ohne erkannt zu werden. (Was, so frage ich mich, ist nur mit den Tausenden seiner Büsten und Porträts geschehen, die einst so viele Privathäuser und öffentliche Gebäude geschmückt haben? Sind sie wirklich alle zerstört und verbrannt worden?) Der junge Mann, der an jenem Frühlingsmorgen am Kai stand, war schmächtig, hatte einen Rundrücken und einen unnatürlich langen Hals, in dem ein Adamsapfel so groß wie eine Kinderfaust auf und ab hüpfte. Seine Haut war blass, er hatte vorstehende Augen und eingefallene Wangen; kurz, er war das Abbild eines kränklichen Mannes. Ich weiß noch, dass ich dachte: Halt dich ran, Tiro, mach das Beste aus der Reise, lange kann sie nicht dauern.
Zuerst führen wir nach Athen, wo er sich das Vergnügen gönnen wollte, an der Akademie Philosophie zu studieren. Als ich ihm zum ersten Mal die Tasche in den Vorlesungssaal getragen hatte und mich wieder entfernen wollte, rief er mich zurück und fragte, wohin ich denn vorhätte zu gehen.
»In den Schatten zu den anderen Sklaven«, antwortete ich. »Es sei denn, Ihr benötigt noch meine Dienste.«
»Und ob ich die benötige«, sagte er. »Ich habe eine äußerst anstrengende Aufgabe für dich. Ich will, dass du hierbleibst und dir ein klein wenig Philosophie aneignest. Dann habe ich auf unseren langen Reisen jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann.«
Also blieb ich, und mir wurde die Ehre zuteil, persönlich Antiochos aus Askalon zu hören, der die drei Grundprinzipien des Stoizismus erklärte - dass nur die Tugend zur Glückseligkeit führe, dass nichts außer der Tugend gut sei und dass man den Gefühlen nicht trauen könne. Drei einfache Regeln, die, würde der Mensch sie befolgen, die meisten Probleme der Welt lösen könnten. Später diskutierten Cicero und ich oft über derartige Fragen, und in der Welt der Gedanken vergaßen wir immer die Unterschiede unserer gesellschaftlichen Stellung. Wir blieben sechs Monate bei Antiochos und zogen dann weiter, um uns dem eigentlichen Zweck unserer Reise zuzuwenden.
Die tonangebende Schule der Rhetorik zu jener Zeit war die sogenannte »asianische« Methode. Eine kunstvolle und blumige Art des Vortrags, voller pompöser Wendungen und klingender Versformen, auf und ab schreitend zelebriert, begleitet von ausladender Gestik. Ihr führender Vertreter in Rom war Quintus Hortensius Hortalus, der allgemein als der herausragende Redner seiner Zeit betrachtet wurde und dessen fantasievolle Beinarbeit ihm den Spitznamen »der Tanzmeister« eingebracht hatte. Um Hortensius ' Methode zu ergründen, legte Cicero besonderen Wert darauf, all seine Lehrmeister aufzusuchen: Menippos aus Stratonikeia, Dionysios aus Magnesia, Aischylos aus Knidos,
Weitere Kostenlose Bücher