Imperium
in der vertrauten Umgebung des Gerichtshofes für Erpressungen vor dem Tempel des Castor auftrat. Der Prozess dauerte von Ende Oktober bis Mitte November. Es wurde hart gekämpft, bei jedem einzelnen Zeugen, bis zum allerletzten Tag, an dem Cicero seine abschließende Rede für die Verteidigung hielt. Von meinem Platz im Rücken des Senators hatte ich vom ersten Tag an Ausschau nach Lucius gehalten. Aber erst an diesem letzten Morgen bildete ich mir ein, ihn in der Zuschauermenge gesehen zu haben, einen blass aussehenden Mann, der ganz hinten an einem Pfeiler lehnte. Ich habe mich oft gefragt - falls er es tatsächlich gewesen ist, wessen ich mir nicht sicher bin -, was Lucius wohl von seinem Vetter gehalten haben mochte, als dieser die Beweise der Gallier zerfetzte und dabei mit dem Finger auf Indutiomarus zeigte. »Weiß er wirklich, was es bedeutet, eine Zeugenaussage vor diesem Gericht zu machen? Verdient es selbst der größte Anführer der Gallier, auf die gleiche Stufe gestellt zu werden wie der geringste Bürger Roms?« Ob er wirklich annehme, dass ein römisches Geschworenengericht dem Wort eines Mannes glaube, dessen Götter Menschenopfer forderten? »Schließlich weiß doch jeder, dass die Gallier bis zum heutigen Tag an dem ungeheuerlichen und barbarischen Brauch festhalten, Menschen zu opfern.« Was hätte Lucius zu Ciceros Darstellung der gallischen Zeugen gesagt, die »mit hochmütigem und unerschütterlichem Gesichtsausdruck auf dem Forum herumstolzieren und barbarische Drohungen ausstoßen«? Und was hätte er von Ciceros brillantem und überraschendem Kunstgriff gehalten, als er dem Gericht am Ende seiner Rede Fonteius ' Schwester präsentierte, eine Vesta-Priester in, die von Kopf bis Fuß in ein fließendes weißes Gewand gehüllt und um deren Schultern ein weißer Leinenschal geschlungen war? Was hätte er davon gehalten, als diese ihren weißen Gesichtsschleier lüftete und den Geschworenen ihre Tränen zeigte, bei deren Anblick ihr Bruder ebenfalls in Tränen ausbrach, worauf Cicero seinem Mandanten besänftigend die Hand auf die Schulter legte?
»Ehrwürdige Richter, gewährt einem ritterlichen und untadeligen Bürger unserer Stadt euren Schutz. Zeigt der Welt, dass ihr dem Zeugnis eines Landsmannes mehr Vertrauen entgegenbringt als dem von Ausländern, dass ihr dem Wohlergehen unserer Bürger größere Beachtung schenkt als den Winkelzügen unserer Feinde, dass ihr dem Flehen derer, die über eure Opferstätten wachen, mehr Gewicht beimesst als den Unverschämtheiten derer, die überall auf der Welt Krieg führen gegen Opferstätten und Heiligtümer. Und abschließend, meine Herren, ein Punkt, der die Ehre des römischen Volkes in besonderer Weise berührt: Stellt unmissverständlich klar, dass die Bitten einer vestalischen Jungfrau schwerer wiegen als die Drohungen von Galliern.«
Diese Rede gab zweifellos den Ausschlag: sowohl für Fonteius, der freigesprochen wurde, als auch für Cicero, in dem man fortan nichts weniger als den glühendsten Patrioten Roms sah. Nachdem ich meine Aufzeichnungen abgeschlossen hatte, hob ich den Kopf. Es war unmöglich, noch einzelne Individuen auszumachen. Die Menge hatte sich in ein einziges, aufgeputschtes Wesen verwandelt, das sich ekstatisch jubelnd dem Rausch der nationalen Selbstglorifizierung hingab. Jedenfalls hoffe ich aufrichtig, dass Lucius nicht anwesend war. Eine begründete Hoffnung, denn nur wenige Stunden später wurde er tot in seinem Haus aufgefunden.
Cicero und Terentia saßen allein beim Abendessen, als die Meldung eintraf. Der Bote war einer von Lucius ' Sklaven, noch ein halbes Kind, das völlig in Tränen aufgelöst war. Es fiel mir zu, dem Senator die Nachricht zu überbringen. Er schaute von seinem Teller auf, starrte mich ausdruckslos an und sagte: »Nein« - als hätte ich ihm bei Gericht ein falsches Schriftstück gereicht. Eine Zeit lang konnte er nichts anderes sagen als immer wieder: »Nein, nein, nein.« Er bewegte sich nicht, er blinzelte nicht mal mit den Augen. Es hatte den Anschein, als hätte sein Gehirn aufgehört zu arbeiten. Es war schließlich Terentia, die als Erste etwas sagte. Sie schlug in sanftem Ton vor, dass er zu Lucius ' Haus gehen und herausfinden solle, was passiert sei, worauf er aufstand und wie in Trance nach seinen Schuhen suchte. »Pass auf ihn auf, Tiro«, flüsterte Terentia mir zu.
Trauer tötet jedes Zeitgefühl. Was mir von jenem Abend und den folgenden Tagen in Erinnerung geblieben
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