Imperium
Lucius fest in die Augen und sagte ernst: »Weißt du, was das Schlimmste ist, was einem Staatsmann passieren kann? Dass seine Landsleute ihn verdächtigen, und sei es auch nur für einen Augenblick, er könnte die Interessen von Ausländern über die seines eigenen Volkes stellen. Genau diese Lüge verbreiten nämlich meine Gegner, seit ich die Sizilier gegen Verres vertreten habe. Und diese Verleumdung kann ich im Keim ersticken, wenn ich jetzt Fonteius ' Verteidigung übernehme.«
»Und die Gallier?«
»Die werden von Plaetorius bestens vertreten.«
»Nicht so gut wie von dir.«
»Aber du sagst doch selbst, dass Fonteius ' Fall auf schwachen Beinen steht. Der mit dem schwächsten Fall soll den stärksten Anwalt bekommen. Was könnte gerechter sein?«
Cicero strahlte ihn mit seinem bezauberndsten Lächeln an, doch Lucius ließ sich diesmal nicht einwickeln. Ihm war wohl klar, dass er einer Niederlage in einem Streitgespräch gegen Cicero nur dadurch entgehen konnte, dass er das Gespräch einfach abbrach. Also stand er auf und humpelte wütend in Pachtung der Tür zum Atrium. Erst jetzt fiel mir auf, wie krank er noch aussah, wie dünn er war, wie gebückt er ging. Er hatte sich von den Strapazen seiner Arbeit in Sizilien nie richtig erholt. »Worte, nichts als Worte«, brummte er bitter. »Hört das denn nie auf mit diesen Praktiken, mit denen du die anderen nach deiner Pfeife tanzen lässt? Da bist du genau wie alle anderen, Marcus: Deine große Stärke ist auch deine Schwäche. Du tust mir leid, wirklich, es dauert nämlich nicht mehr lange, dann kannst du zwischen deinen Winkelzügen und der Wahrheit nicht mehr unterscheiden. Und dann bist du verloren.«
»›Die Wahrheit‹«, sagte Cicero lachend. »Ziemlich schwammiger Begriff für einen Philosophen!« Aber seine Spitze ging ins Leere, denn Lucius hatte den Raum bereits verlassen.
»Er kommt schon zurück«, sagte Quintus.
Aber er kam nicht zurück, und in den folgenden Tagen erledigte Cicero die Vorbereitungen für seinen Prozess mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck eines Mannes, der sich ergeben in eine unappetitliche, aber unumgängliche Arbeit vertieft. Und was seinen Mandanten betrifft: Fonteius hatte schon seit drei Jahren mit dieser Anklage gerechnet und die Zeit gut genutzt, indem er für seine Verteidigung Unmengen an Beweismaterial zusammengetragen hatte. Er hatte Zeugen aus Spanien und Gallien, darunter Offiziere aus Pompeius ' Lager sowie gerissene und gierige Steuerpächter und Kaufleute - allesamt Mitglieder der römischen Gemeinde in Gallien, die geschworen hatten, dass Nacht Tag sei und Land Meer, Hauptsache der Preis stimmte. Es gab nur ein Problem, das Cicero klar vor Augen stand, als sein fertiger Schriftsatz vor ihm auf dem Schreibpult lag: Fonteius war hundertprozentig schuldig. Cicero saß lange in seinem Arbeitszimmer und starrte an die Wand, während ich mich auf Zehenspitzen um ihn herumschlich. Ich erzähle das, weil es notwendig ist zum Verständnis seines Charakters. Cicero versuchte nämlich nicht nur, wie das vielleicht ein zynischer oder zweitklassiger Anwalt getan hätte, sich irgendeine kluge Taktik auszudenken, mit der er den Ankläger aufs Kreuz legen konnte. Er versuchte etwas zu finden, an das er glauben konnte. Das war der Kern seiner Genialität, sowohl als Rechtsanwalt wie als Staatsmann. »Wenn man selbst überzeugt ist, überzeugt man auch andere«, pflegte er zu sagen. »Du musst an das Argument glauben, das du vorbringst, sonst bist du verloren. Mit keiner Beweisführung, und sei sie noch so logisch oder geschliffen oder brillant, gewinnst du den Prozess, wenn deine Zuhörer spüren, dass dir der Glaube fehlt.« Er brauchte nur einen einzigen Punkt, an den er glauben konnte. An ihm konnte er sich festklammern, konnte darauf aufbauen, konnte ihn ausschmücken und für den Zeitraum von ein oder zwei Stunden in das wichtigste Thema der Welt verwandeln und dieses mit einer Leidenschaft darbieten, die die fadenscheinige Rationalität seiner Widersacher zertrümmerte. Oft verschwand dieser Punkt nach der Rede vollkommen aus seinem Kopf. Und woran glaubte er nun im Fall von Marcus Fonteius? Stundenlang starrte er an die Wand und verfiel schließlich nur darauf: dass sein Mandant in seiner eigenen Stadt von Roms traditionellem Erzfeind, den Galliern, attackiert worden sei und dass dieser Umstand, ungeachtet aller Fragen von Recht oder Unrecht, eine Art Verrat sei.
Darauf konzentrierte er sich, als er einmal mehr
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