In aller Unschuld Thriller
Er ähnelte seinem Vater nicht im Geringsten. Während das Gesicht seines Vaters aus grobem Stein gemeißelt zu sein schien, war das des Jungen weich und glatt und trug fast weibliche Züge. Er war schmal gebaut und knapp über eins siebzig groß.
Der Junge hatte die Leichen von Marlene und den beiden Pflegekindern entdeckt, kurz bevor sein Vater von der Arbeit nach Hause gekommen war. Den Berichten der Streifenpolizisten zufolge, die als Erste am Tatort eingetroffen waren – und später dem von Stan Dempsey und seinem Partner – , hatte sich Bobby geweigert, das Haus zu verlassen und seinem Vater von der Seite zu weichen. Er hatte Stunden auf der Veranda gesessen, während die Leute von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin ein und aus gingen, Beweisstücke einsammelten und die Leichensäcke auf Tragen hinausschoben.
Bobby Haas war auf der Veranda geblieben, in eine Ecke gekauert, wo er – weinend und schniefend die Arme um die Knie gelegt – sich hin und her gewiegt hatte. Unter Schock, überwältigt von Trauer. Die Psychologin von der Opferbetreuungsstelle der Polizei hatte sich neben ihn gesetzt und ihn zu beruhigen versucht, ihn zu überreden versucht, sie aufs Polizeirevier zu begleiten. Schließlich fuhr man ihn ins Krankenhaus, wo er zu seinem eigenen Schutz in der psychiatrischen Abteilung untergebracht wurde, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln. Man behielt ihn eine Woche lang zur Beobachtung dort.
Kovac kannte das Grauen, das man empfand, wenn man sah, zu welchen Untaten Menschen imstande sind. Er war ein erwachsener Mann, seit mehr als zwanzig Jahren bei der Polizei und hatte unzählige Mordermittlungen hinter sich gebracht, und immer noch gab es so schreckliche Fälle, dass sogar er bis ins Mark erschüttert war und von Albträumen heimgesucht wurde. Bobby Haas würde die Erinnerungen an den Tag, an dem er die Leichen fand, und die Albträume nie mehr loswerden.
»Geht es deinem Vater wieder besser?«, fragte Kovac.
Der Junge zuckte kaum merklich die Achseln, nickte und wandte seinen Blick ab. Er war verstört und besorgt und sah durch das Fenster zu seinem Vater. »Ich soll Ihnen sagen, dass er gleich nach der Arbeit nach Hause kam und nicht mehr weggegangen ist. Warum wollen Sie das wissen?«
Kovac gab keine Antwort.
»Es ist sehr schwer für ihn, wissen Sie«, sagte der Junge. »Die Entscheidung dieser Richterin.«
»Woher weißt du eigentlich davon, wenn du nach der Schule mit einem Freund unterwegs warst?«
»Die Leute haben alle darüber geredet. Stench und ich sind bei Burger King gewesen.«
»Und was denkst du darüber, Bobby?«, fragte Liska. »Dass Richterin Moore das Vorstrafenregister von Dahl aus der Beweisaufnahme ausschließt. Ärgert dich das?«
»Klar«, sagte er und versuchte, grimmig auszusehen. Es gelang ihm nicht so recht. Er stemmte die Hände in die Hüften, und die viel zu große schwarze Jacke mit dem Vikings-Logo schob sich nach oben und ragte über seine Schultern und seinen Hals wie ein Schildkrötenpanzer. »Warum hat sie das gemacht? Der Typ ist doch total verrückt!«
»In welchem Burger King wart ihr?«, fragte Kovac.
Der Junge sah ihn misstrauisch an. »Downtown. City Center, glaub ich.«
»Glaubst du? Du warst doch dort. Wie kommt es, dass du dich nicht mehr genau erinnerst?«
»Da stehen so viele riesige Gebäude und dann die ganzen Fußgängerbrücken und so. Wir sind rumgelaufen. Ich hab nicht drauf geachtet.«
»Was hast du überhaupt in Downtown gemacht?«
»Nichts Besonderes, wir haben nur die Zeit totgeschlagen. Darf ich das vielleicht nicht?«
Kovac sah ihn schweigend an.
»Wir müssen mit deinem Freund sprechen, Bobby«, sagte Liska freundlich, fast mütterlich. »Richterin Moore ist heute Abend überfallen worden. Wir müssen wissen, wo du dich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hast.«
Bobby Haas sah sie und Kovac an, als wären ihnen plötzlich Hörner gewachsen. »Das ist ein Witz, oder? Das meinen Sie nicht ernst. Glauben Sie etwa, dass ich das gewesen bin?«
»Warst du's?«, fragte Kovac.
»Nein!«
»Wir wissen nicht, wer es getan hat, Bobby«, sagte Liska. »Aber wir müssen wissen, wo du warst, damit wir dich von der Liste streichen können.«
»Und meinen Dad auch? Das ist doch total krank«, sagte er, und seine Augen fingen verräterisch zu glänzen an. »Glauben Sie nicht, dass er schon genug durchgemacht hat?«
»Das ist reine Routine«, sagte Kovac. Er steckte sich nun doch die Zigarette zwischen die Lippen, zündete
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