In dein Herz geschrieben
nahm sie auf den Arm und deutete auf die Möwen. »Das sind doch nur Möwen, Schätzchen. Vor denen brauchst du keine Angst zu haben.« Ein Stück weiter warf ein Mann Brot von seiner Terrasse, während etwa zwanzig Vögel über seinem Kopf kreisten.
»Vögel«, sagte Emma.
»Richtig, Schätzchen.«
Emma legte den Kopf auf Cassandras Schulter, während sie sich dem Meer zuwandte. Das leise Rauschen der Wellen umgab sie, und Cassandra vermutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Emma einschlafen würde, völlig erledigt von all der Aufregung. Sie sollten den Strand verlassen, doch Cassandra konnte sich nicht dazu durchringen. Noch nicht. Das war ihre Lieblingstageszeit, und sie wollte den letzten Lichtschimmer auf dem Wasser sehen, all die ineinanderfließenden Blau- und Grauschattierungen, während sich die Dämmerung langsam über das Meer senkte.
Unmittelbar vor ihnen sprang ein Fisch aus dem Wasser, und Emma hob abrupt den Kopf. »Fisch«, sagte sie und zeigte darauf.
»Ja. Ein dicker alter Fisch.«
Die letzten Lichtstrahlen der untergehenden Sonne verliehen dem Wasser eine blau-grüne Färbung, die die Fische wie winzige Silberpfeile unter der Oberfläche aussehen ließ. Erstaunlich, wie sie geradeaus schwammen, auch wenn sich die Wellen über ihnen brachen. Cassandra fragte sich, was sie so entschlossen und zielstrebig machte, worauf sie auch gerade zusteuern mochten. Wahrscheinlich der Instinkt, etwas, das sich nicht erklären ließ.
Sie konnte kaum glauben, wie viel Leben es hier am Strand gab, wann immer sie hierherkam. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es ihr aufgefallen wäre, als sie noch jünger gewesen war. Doch nun war es nicht zu übersehen - überall Leben. Wildes und nicht ganz so wildes Leben. Alle möglichen Arten von Fischen und Vögeln, winzige weiße, fast durchsichtige Krabben, die einen anstarrten, wenn man sie betrachtete, bevor sie seitwärts davonkrabbelten und in Windeseile in einem winzigen Sandloch verschwanden.
Dreiecksmuscheln, Einsiedlerkrebse, Seeschwalben, Rochen, Rankenfußkrebse - hier unten am Meer existierte ein ganz eigenes Vokabular. All dieses Leben, Dinge, denen die meisten Menschen keinerlei Beachtung schenkten, weil sie viel zu beschäftigt damit waren, braun zu werden, zu plaudern oder zu schwimmen. Selbst der Wind fühlte sich hier irgendwie lebendig an, ständig aus anderer Richtung kommend, sorgte er dafür, dass alles, was er berührte, sich ebenfalls bewegte und veränderte. Sie hatte das Gefühl, als könne hier unten am Strand alles geschehen; als müsse sie lediglich Geduld haben, bis der Wind es mit sich brachte, etwas Unerwartetes, aber Angenehmes. Etwas, das ihr Leben für immer verändern würde.
JUNI
»Man hatte ihr in ihrer Jugend Lebensklugheit aufgezwungen; was romantische Liebe bedeutet, begriff sie erst, als sie älter wurde - die natürliche Entwicklung eines unnatürlichen Anfangs.«
Jane Austen
1
Der Blick auf die Füße war der Auslöser. Die Schuld dafür gab sie einem Artikel über Träume in der Zeitschrift, die sie neulich beim Arzt gelesen hatte. Darin behauptete eine Frau, wann immer sie etwas träume, was ihr missfalle, sähe sie nur auf ihre Füße, und wenn sie wieder hochsähe, Zack! Ein neuer Traum.
Also sagte sie sich eine ganze Woche lang jeden Abend beim Zubettgehen: »Sieh auf deine Füße, sieh auf deine Füße!«, doch wenn der Traum erst einmal begonnen hatte, blieb ihr nichts anderes übrig als dazustehen und zuzusehen, wie es geschah. Und jede Nacht war es dasselbe. Sie sah sich selbst, wie sie einen Mann heiratete, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte. »Nehmen Sie, Charlotte, diesen Mann zu Ihrem Ehemann?«, fragte der Prediger, doch sie konnte den Mund nicht aufmachen, um ihm zu sagen, sie heiße Cassandra. Dann hob sie ihren Schleier und sah, dass der Bräutigam Mr. Collins aus dem Film Stolz und Vorurteil war, was bedeutete, dass sie nicht Lizzie oder gar Jane war. Sie war Charlotte Lucas, die am Ende nachgab und einen Mann heiratete, den
sie nicht liebte, nur um einen Ehemann zu haben. Cassandra hatte sich so sehnlich gewünscht, diesen Traum abzuändern, die Braut wieder in Cassandra zu verwandeln und dafür zu sorgen, dass Mr. Collins zu Mr. Darcy wurde.
Nein, Moment, nicht zu Mr. Darcy. Zu Dennis. Dennis war ihr Bräutigam, und das war nun gar kein Traum. Es war ihre eigene Hochzeit und höchste Zeit aufzuwachen. Aus dem Augenwinkel sah sie A. J.s Beine, die in den weißen Smokinghosen
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