Maddie ging in Gedanken noch einmal durch, was Phil ihr mitgeteilt hatte. Was auch an “Merkwürdigem” passiert sein mochte – es war offensichtlich etwas, das er einer Telefonistin, die die Nachrichten an Maddies Festnetznummer weiterleitete, nicht mitteilen konnte.
Und sie dachte an das Ende seiner ersten Nachricht, bei der es ihr den Atem verschlagen hatte.
Was hatte er zu ihr gesagt?
Hab dich lieb.
Kurz und beiläufig, wie ein schneller Kuss im Vorübergehen oder ein zärtlicher Klaps auf die Schulter.
Hab dich lieb.
Sie war schon unterwegs zu ihrer Schlafecke hinter dem Vorhang, wo der Laptop im sanften Licht der Bronzelampe auf der winzigen Kommode stand. Sie öffnete ihr Mailprogramm, und eine geradezu nervenaufreibend fröhliche Computerstimme meldete: “Sie haben Post.”
An: BeautifulDancer909
Von: IrdischeGö
[email protected] Hi, Maddie,
hier kommt alles, was ich über das Glendower Building, dessen Erbauer und die Ereignisse im Januar 1908 herausfinden konnte.
Das Glendower Building wurde 1884 von Lucius Glendower in Auftrag gegeben. Glendower besaß einige Baufirmen, Mietshäuser, Kleider- und Streichholzfabriken in der Lower East Side. Das Gebäude hatte acht Stockwerke, wobei sich in den letzten drei Etagen die “Pinnacle-Fabrik für Konfektionshemden” befand, die Glendower gehörte.
Wie du vielleicht weißt, gab es damals noch keine Gewerkschaften und somit auch keine Vorschriften, wie viel ein Unternehmer seinen Arbeitern an Mindestlohn zahlen musste oder wie lange er seine Leute arbeiten lassen durfte. Außerdem konnte er sie entlassen, wann immer es ihm gerade passte, falls sie sich weigerten, ihm zu gehorchen, und es gab auch keinerlei Sicherheitsvorschriften. Glendower hatte sogar in der gesamten Textilbranche der Lower East Side einen schlechten Ruf.
Ach du meine Güte!,
dachte Maddie. Ihr Großvater hatte als Journalist Artikel über die Gewerkschaftsstreiks im frühen 20. Jahrhundert geschrieben, daher wusste sie ein bisschen über die Leute Bescheid, in deren Besitz sich damals die Textilfabriken befunden hatten. Es wollte einiges heißen, wenn ein Mann unter den Raubrittern der Branche einen “schlechten Ruf” gehabt hatte.
Glendower hat vier Dollar die Woche bezahlt und zum größten Teil russische, jüdische, italienische, irische und kubanische Mädchen beschäftigt, deren Familien ein bisschen Geld dringend nötig hatten. Im Winter hatten die Mädchen einen 12-Stunden-Arbeitstag, im Sommer waren es 16 Stunden, und Glendowers Abteilungsleiter waren angehalten, die Türen der Fabriksetagen bis auf die kurze Mittagspause stets geschlossen zu halten. Sie meinten, nur so könnten Diebstähle verhindert werden (die einzigen Toiletten waren im Hof hinter dem Haus, und somit hätten Textilien über den Zaun geworfen werden können), außerdem wollten sie sichergehen, dass die Mädchen nicht zwischendurch im Hof “herumlungerten”. Diese Maßnahme war damals durchaus üblich.
Die Fenster blieben aus den gleichen Gründen verschlossen, und auch das war eine gängige Praxis in der Textilindustrie. Es führte – wenn schon zu sonst nichts – dazu, dass im Sommer mehrere Arbeiterinnen pro Tag ohnmächtig wurden und mindestens ein Mädchen an Hitzschlag und Dehydrierung verstarb. Glendower hat lieber die Aufsichtsorgane der Stadt bestochen, als Geld in Notausgänge oder Feuerleitern zu investieren. Das geschah erst später.
Glendower war außerdem berüchtigt dafür, dass er die Mädchen, die für ihn arbeiteten, sexuell missbraucht hat. Sein Büro war im sechsten Stock, und dorthin hat er regelmäßig Mädchen mitgenommen und sie belästigt. Er hat ihnen angedroht, sie zu feuern und dafür zu sorgen, dass sie in keiner anderen Textilfabrik an der East Side einen Job kriegen, falls sie ihm Widerstand leisteten. Auch das war damals übrigens nichts Ungewöhnliches. Mädchen, vor allem Mädchen aus Einwandererfamilien, die arbeiten mussten, galten seinerzeit als Freiwild. Laut den Beschwerden, die zu dieser Zeit bei der relativ neu gegründeten ILGWU, die Gewerkschaft der Konfektionsarbeiterinnen, eingingen, scheint Glendower – ein dicker, kräftiger Mann mit dunklem Haar, dessen Vater im amerikanischen Bürgerkrieg ein Vermögen mit Waffenlieferung an beide Kriegsparteien gemacht hat – sexsüchtig gewesen zu sein. Ob er ein richtiger Sadist war, weiß man nicht, aber es hat ihm jedenfalls einen Kick gegeben, die Mädchen hart “ranzunehmen”.
Ich höre sie