In deinem Schatten
schreien …,
hatte Phil gesagt.
Und ich höre ihn lachen.
Nun hatte Maddie wieder die flüsternde Stimme in der Dunkelheit im Ohr:
… diese kleinen Flittchen sind doch alle gleich … nur für Eines zu gebrauchen …
Sie dachte an die unzähligen Kinder, die mit leuchtenden Gesichtern und in ihren rosafarbenen Ballettoutfits die Treppen des Glendower Building hinauf und hinunter liefen.
Und sie dachte an die jungen Arbeiterinnen, die nicht viel älter als die Ballettschülerinnen gewesen waren und versucht hatten, genug Geld zu verdienen, damit ihre Eltern und Geschwister nicht aus ihren schäbigen Mietwohnungen geworfen wurden.
Über dem Boden der Korridore, über die die Mädchen damals gelaufen waren, mochten mittlerweile viele Schichten Farbe und Linoleum liegen. Doch es schien, als würden sich die Wände des Hauses noch erinnern und vor Scham in der Dunkelheit weinen.
Wie die meisten Werke der Bekleidungsindustrie war damals auch die Pinnacle-Fabrik für Konfektionshemden eine tickende Zeitbombe. Stoffe, die vom Öl der Nähmaschinen durchtränkt waren, wurden viel zu selten entsorgt, da es zu aufwändig gewesen wäre, irgendetwas über das enge Treppenhaus nach unten zu transportieren. Also wurden die öligen Fetzen unter den Arbeitstischen gestapelt – und das zu einer Zeit, als noch keine Rede von Feuerschutzmitteln für Textilien war. Auch am Boden der Fabriken lagen haufenweise ölige Fetzen, lose Fäden und Knäuel aus unbehandelter, extrem leicht entflammbarer Baumwolle.
Am Morgen des 13. Januar 1908 geschah das Unvermeidliche: In den Fabrikräumen im siebenten Stock brach ein Feuer aus.
Maddie schloss die Augen und hörte das Schreien und das verzweifelte Hämmern von Fäusten an einer verschlossenen Metalltür.
90 Mädchen kamen ums Leben. Der siebente und der achte Stock wurden völlig zerstört, und auch der sechste Stock war ausgebrannt. Lucius Glendowers Leiche wurde in einem der Treppenhäuser gefunden, wo er anscheinend durch den Rauch und die Panik der Menschen im Haus die Orientierung verloren haben dürfte und verbrannte. Die Leute waren damals der Meinung, dass seine höllische Todesart nur ein Vorspiel für ein ähnliches Schicksal im Jenseits war.
Sein Besitz wurde zwischen seiner zweiten Frau und seinem Neffen Grayson aufgeteilt, die einander dann heirateten, um die Aktien zu konsolidieren. Sie renovierten das Gebäude und verkauften es schließlich im Jahr 1925.
Maddie versuchte sich vorzustellen, wie jemand dermaßen kaltherzig, berechnend und geldgierig sein konnte wie dieses Paar. Dabei spürte sie eine gewisse Genugtuung, dass Lucius Glendower nicht nur einen, sondern gleich zwei solcher abscheulicher Menschen in seiner Familie gehabt hatte. Geschah ihm recht.
Sie scrollte in der Mail nach unten. Im restlichen Text, nahm sie an, würde es nur mehr um die Renovierung und den Verkauf des Gebäudes gehen.
Das erste Mal, dass nach dem Brand eine junge Frau in dem Gebäude verschwand, war im Jahr 1919. Ich konnte nicht viel über sie herausfinden, außer, dass sie zu den Fabrikarbeiterinnen gehörte, die für Grayson Glendower arbeiteten. Allerdings scheint es keinen Zweifel zu geben, dass sie das Haus nie verlassen hat und ihre Leiche nie gefunden wurde.
Maddie spürte, wie es ihr vor Entsetzen das Herz zusammenschnürte. Das
erste
Mal …?
Rasch überflog sie die folgenden Absätze von Dianas E-Mail, in denen weitere Namen und Jahreszahlen genannt wurden. Im ersten Moment war sie zu schockiert, um zu glauben, was da zu lesen war.
Insgesamt waren seit 1919 mindestens zehn Mädchen im Glendower Building spurlos verschwunden.
Das New Yorker Police Department hatte versucht, das Verschwinden der meisten Mädchen logisch zu erklären. Manches davon mochte sogar richtig gewesen sein. Eine junge Frau zum Beispiel, die als Näherin gearbeitet hatte und 1943 verschwand, war von ihren Verwandten als “Problemkind” bezeichnet worden und hatte damals offenbar etwas mit einem protestantischen Jungen gehabt, den ihre Verwandten nicht mochten. Da der junge Mann zur Armee gegangen war, hatte es Spekulationen gegeben, dass das Mädchen von zu Hause weg und zu ihm gelaufen war, bevor er nach Italien in den Krieg geschickt wurde, wo er ein paar Monate später verstarb. Niemand war besonders verwundert gewesen, dass man nie mehr etwas von der Näherin gehört hatte. Und das verschwundene Mädchen, das im Dezember 1967 spät nachts im Gebäude gearbeitet hatte, war eine 16-jährige
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