In deinem Schatten
für sie Klavier spiele, während sie trainiert. Ich habe Ja gesagt und bin in mein Studio hinaufgegangen, um mir einen Kaffee zu holen. Tessa hatte nämlich die Kaffeemaschine schon geputzt und ausgeschaltet, als sie vor der Ballettstunde mit ihrer Arbeit hier fertig wurde. Als ich dann in den großen Ballettsaal gekommen bin, war sie fort. Ihre Tasche war aber noch da, und daher habe ich erst einmal auf sie gewartet …”
Er sperrte die Tür zur düsteren, kleinen Eingangshalle auf und, sobald er und Maddie eingetreten waren, wieder zu. Dann schob er den Sicherheitsriegel vor und führte sie an der leer stehenden Pförtnerloge vom Hausmeister Quincy vorbei bis zum Treppenhaus. Als Maddie die erste, hohe Treppe – vorbei an den Lagerräumen, die zu den Läden im Erdgeschoss gehörten – hinaufging, fragte sie sich, ob die Eingangstür, durch die man das Glendower von der 29. Straße aus betrat, seit Erbauung des Hauses dieselbe geblieben war. Also jene Tür war, durch die auch die vielen russischen, jüdischen und kubanischen jungen Frauen damals Tag für Tag zur Arbeit in die Pinnacle-Fabrik gekommen waren.
Sie dachte an diese Mädchen, die heutzutage wohl die kleinen Grufties mit den grünen Haaren wären, die in Cliquen ins East Village kamen, um sich ein Schmetterlings-Tattoo auf die Hüfte tätowieren zu lassen. Oder die jungen Studentinnen, die bei Starbucks saßen und auf ihren Laptops ihre Arbeiten für die Uni erledigten. Maddie sah sie als Fabrikarbeiterinnen vor sich, wie sie sich fest in ihre ausgebleichten Schultertücher wickelten, die langen, leicht entflammbaren Röcke rafften, die Treppen hinaufeilten und beteten, dass Mr. Glendower nicht gerade in diesem Moment aus seinem Büro im sechsten Stock kommen und sagen würde: “Komm herein. Ich möchte mit dir reden.”
“Ich habe das ganze Gebäude abgesucht”, sagte Phil. “Quincy war schon weg, und ich habe den ganzen Abend versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Ohne Erfolg. Ich habe Tessa gerufen. Habe in jedem dieser unheimlichen Korridoren ihren Namen geschrien, überall das Licht eingeschaltet, an alle Türen im Haus geklopft und die Herren- und Damentoiletten durchsucht. Ich war überall. Ihr Schlüssel für die Eingangstür war in ihrer Tasche, sie
kann
das Gebäude also nicht verlassen haben.”
“Nein”, sagte Maddie. “Nein, ich glaube auch, dass sie noch hier sein muss.”
Sie gingen durch das schäbige, dunkle Foyer des Dance Loft und traten in den hell erleuchteten großen Ballettsaal mit den Spiegelwänden, dessen gleißendes Neonlicht sie beinahe blendete. Laut Dianas E-Mail war der dritte Stock im Januar 1908 ein Warendepot für Seide gewesen. Im Winter 1962 hatten sich hier Verkaufsräume befunden, in denen Großhändler künstliche Federn und Blumen erwerben konnten. Und damals hatte auch ein Mädchen namens Hannah Sears hier gearbeitet, deren Geldbörse, Mantel und Galoschen man eines Morgens gefunden hatte – mitsamt dem Schlüssel für das Eingangsportal im Erdgeschoss.
Als Maddie nun nach oben sah, konnte sie eine Stelle erkennen, wo irgendwann einmal eine Trennwand entfernt worden war: Über den Spiegeln verlief eine rissige Linie, die wahrscheinlich schon ein Dutzend Mal übermalt worden war.
“Phil”, sagte Maddie, “ich tue es nicht gern, aber ich muss dir etwas sagen.” Sie sah ihn an, wie er mit seinem dunklen, zerzausten Haar, seiner Navy-Jacke und dem schräg zugeknöpften Hemd vor ihr stand. Sein Gesicht war ihr schon so vertraut … so sehr Teil ihrer Gedanken. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass sie jedes Recht hatte zu sagen:
Ruf die Cops – die können ihre Spur aufnehmen, falls sie die Stadt verlassen hat …
Es wäre nur vernünftig und richtig, das zu tun.
Und es würde ebenfalls bedeuten, dass Phil sie nie mehr so skeptisch ansehen würde, wie er es gestern getan hatte – als sie auf dem Boden in der Küche gesessen hatten und sie ihm von der schmalen Treppe erzählte, die vom sechsten Stock weiter nach oben führte. Jene Treppe, von der er behauptete, es würde sie nicht geben.
Wer
ist
diese durchgeknallte Person? Und warum verschwende ich überhaupt meine Zeit mit ihr?
Und niemand konnte ihr vorwerfen, dass sie nicht ihr Bestes getan hätte.
Doch Maddie wusste, dass man die Polizei auch gerufen hatte, als Maria Diaz 1956 verschwunden war … und Vera Rosenfeld 1972 … und das Hippiemädchen 1967 … und noch viele mehr.
Es geht darum, wie er in dein Leben passt
, hatte Diana
Weitere Kostenlose Bücher