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In deinem Schatten

In deinem Schatten

Titel: In deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Hambly
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“Tessa?”
    Und aus der Dunkelheit ganz oben auf der Treppe – jener Treppe, die vor über hundert Jahren zerstört worden war – ertönte plötzlich das erstickte Weinen eines verängstigten Mädchens.
    Maddie setzte ihren Fuß auf die unterste Stufe, und die Welle des Hasses, die ihr von oben entgegenschlug, war so deutlich spürbar wie die Druckwelle einer Explosion.
Verschwinde! Verschwinde, du verdammte Schlampe! Willst wohl einem Mann wegnehmen, was ihm gehört! Willst einem Mann vorschreiben, was er in seiner eigenen Fabrik, mit seinen eigenen Mädchen, zu tun hat!
    Auf den Tag genau vor über hundert Jahren war dieses Etwas da oben in der Dunkelheit gestorben. Und während es starb, hatte es die Kraft all jener aufgesogen, die mit ihm in der Flammenhölle umgekommen waren. Während Maddie die Stufen hinaufging, konnte sie die Gegenwart derjenigen spüren, denen diese Lebenskraft geraubt worden war. Die Wände links und rechts kreischten gellend wie Vögel, die in der Falle saßen. Eine warme Hand legte sich auf ihren Arm, tröstend und stark. “Was
ist
es?”, flüsterte Phil. “Es war doch nicht hier, wo …”
    Maddies Lippen fühlten sich an, als hätte sie beim Zahnarzt eine Lidocain-Spritze verabreicht bekommen. “Es ist die Welt, die er erschaffen hat”, murmelte sie. “Die Welt, die immer noch in seinem Kopf existiert …”
    Ein stechender Schmerz durchzuckte sie mit einer solchen Vehemenz, dass sie ins Taumeln geriet. Der Schmerz wurde begleitet von einem grauenvollen Gefühl, das ihr Angst machte. Obwohl sie dieses Gefühl noch nie zuvor erlebt hatte, wusste sie sofort, was es war: Eine kalte Hand zerrte an ihrer Seele und wollte sie ihr entreißen. Sie keuchte, griff nach Phils Hand und umklammerte sie. “Halt mich fest …”
    Er legte seine Arme um sie und stützte sie. Es schien, als würden die Stufen unter ihren Füßen kippen oder als würde irgendetwas sie stoßen und versuchen, sie zurückzudrängen. Jemand brüllte ihr etwas in die Ohren, die Wände um sie herum wurden von dunklem Donnern erschüttert, und mittendrin hörte sie Phils Stimme: “Ich halte dich fest, Baby. Ich bin da …”
    Und plötzlich hörte sie – schwach wie den Ruf eines Vögelchens im Sturm – Tessas Schrei: “Maddie …!”
    Der Schmerz ließ so plötzlich nach, dass sie aufstöhnte. Der Schrei verhallte. Doch als Maddie die letzten Stufen der Treppe hinaufstolperte, spürte sie, wie die Dunkelheit über ihnen Form anzunehmen begann und lauernd darauf wartete, sie in sich hineinzuziehen.
    Die Welt am Ende der Treppe war die Welt, die das Glendower Building vor dem Feuer gewesen war und die durch jemand, der sich an diese Welt seit einem Jahrhundert erinnerte und sie bewahrt hatte, zu einem schwarzen Albtraum mutiert war. Der hohe, riesige Dachboden lag im Dunkeln, die Luft war ein dicker Nebel aus Baumwollstaub, der die Lungen und den Hals verklebte. Überall türmten sich Stoffballen und Kisten, und die Wände und der Boden bebten vom Rattern und Hämmern der Maschinen. Der Schein der Taschenlampe wurde schwächer und erlosch. Phil rief “Tessa!”, doch das Hämmern der Maschinen dröhnte immer lauter. “Tessa!”
    Wir werden sie nie mehr hören, dachte Maddie verzweifelt.
Sie wird schwächer, sie kann sich nicht mehr gegen ihn wehren!
    Einen Moment lang hatte sie das Bedürfnis zu weinen und zurück zur Treppe zu laufen – falls es ihr gelänge, sie wiederzufinden –, um diesem schrecklichen Ort zu entkommen …
    Sie konzentrierte sich auf ihren Atem und versuchte sich zu beruhigen. “Hilf mir, sie zu finden”, sagte sie leise. “Hilf mir, sie von hier wegzubringen.”
    Jetzt spürte sie wieder, wie die kribbelnde Energie über ihre Hände kroch, sie sanft an den Armen und an ihrem langen Haar zog und ihr warm und zart wie eine Feder über die Wangen strich.
Allá, hermana
, schien ihr jemand aufmunternd ins Ohr zu hauchen.
Dort drüben, Schwester. Pass auf, der Bastard wird wütend sein …
    Sie folgte der Energie in der vibrierenden Dunkelheit durch unzählige Gänge und Räume, deren Anordnung ihr wie ein Labyrinth vorkam, und eine weitere Treppe hinauf, die so schmal war, dass die Wände ihre Schultern streiften. Auf den Stufen saßen Ratten, die sie mit roten Augen anstarrten und drohend fauchten. Phil gab Maddie die Taschenlampe und ging mit dem Nageleisen vorneweg, ohne ihre Hand loszulassen. Seine Miene war ausdruckslos. Auch er, dachte Maddie, war ein Mann, der tun würde, was er tun

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