In deinem Schatten
gesagt.
Nicht umgekehrt.
Und dazu gehörte, nahm Maddie an, auch seine Vorstellung davon, wie das Universum funktionieren sollte.
Sie holte tief Luft. “Tessa ist nicht die einzige junge Frau, die in diesem Haus verschwunden ist”, sagte sie und erklärte ihm dann so rasch und in so wenigen Worten wie möglich, was Diana in ihrer E-Mail geschrieben hatte. “In New York verschwinden natürlich ständig Leute”, sagte sie. “Ich habe keine Ahnung, wie die Statistik für ein einzelnes, zufällig ausgewähltes Gebäude aussieht, also wie viele Leute durchschnittlich in einem Haus verschwinden. Wenn wir einmal sehr viel Zeit haben, würde ich gern mal ins Rathaus gehen und in den Akten nachlesen, wie es diesbezüglich mit den anderen Gebäuden aussieht.”
Phil sagte nichts. Sah sie nur mit zusammengezogenen Augenbrauen an, hörte zu und dachte … Tja, was dachte er wohl?
“Alle Mädchen sind zwischen Mitte Dezember und dem 13. Januar verschwunden, dem Jahrestag des Brands im Jahr 1908. Das ist heute. Und alle diese Mädchen waren gleich alt und sahen so aus wie die jungen Arbeiterinnen, die Lucius Glendower hier sexuell belästigt hat – Immigrantinnen der ersten oder zweiten Generation, die meisten von ihnen aus lateinamerikanischen oder jüdischen Familien.
“Bis auf die letzte, Padmini Raschad.” Seine Stimme klang sehr leise in dem hell erleuchteten Saal, und seine dunklen Augen funkelten wütend. “Quincy hat mir von ihr erzählt. Quincy sitzt seit 1980 jeden Tag in dieser Pförtnerloge, und da ich ihn nicht ständig verärgern möchte, indem ich möglichst schnell an ihm vorbeigehe, gibt es nichts, was ich über dieses Haus nicht schon – ausführlich und mehrmals – gehört hätte, glaub mir.”
Während er redete, zog er – wie jemand, der sich auf einen Kampf vorbereitete – seine Jacke aus und legte sie auf die Klavierbank in der Ecke des Ballettsaals. “Padmini Raschad ist 1994 verschwunden. Sie hat in dem Reisebüro im fünften Stock gearbeitet. Ihr Verschwinden hat damals für ziemliches Aufsehen gesorgt – Quincy hat erzählt, dass die Cops endlos lange im Haus ermittelt haben. Allerdings ohne Ergebnis. Aber das bedeutet, dass die Dayforths von dem Fall wussten. Sie müssen es wissen, denn das Dance Loft ist schon seit den 80ern hier. Und beide hielten es nicht der Mühe wert, auch nur irgendjemandem mitzuteilen, dass in diesem Haus merkwürdige Dinge geschehen sind oder geschehen sein könnten. Wahrscheinlich wollten sie keine Kunden abschrecken.”
Maddie hatte mit Charmian Dayforth nicht viel zu tun gehabt und auch nichts zu tun haben wollen, seit ihre Kurse ohne Vorankündigung gestrichen worden waren. Was seine Frau betraf, hatte Phil allerdings auf jeden Fall recht. Sie traute Mrs. Dayforth zu, dass sie selbst dann keinen gewarnt hätte, wenn sie Lucius Glendowers Geist mit eigenen Augen durch die Gänge spuken gesehen hätte.
“Ich nehme an”, fuhr Phil fort, “dass für jemanden, der sich nicht die Mühe macht, einen Menschen genauer anzusehen, eine Pakistani so ähnlich wirkt wie eine Italienerin.”
Maddie schloss kurz die Augen und flüsterte ein Dankgebet, dass der geschwätzige alte Hausmeister alles mitbekommen hatte.
“Was machen wir also?”
“Lass uns in den sechsten Stock gehen.”
Die Stille, die im Haus herrschte, hatte etwas Beklemmendes an sich. Als Maddie mit Phil die Treppe hinaufging, beschlich sie trotz der hellen Beleuchtung das Gefühl, dass irgendwo etwas Böses, Gefährliches lauerte, das jedes Mal in Deckung ging, wenn sie sich umsah. Ein dunkelhaariger Mann sei Glendower gewesen, hatte Diana gesagt. Ein wohlhabender und einflussreicher Geschäftsmann.
Der König der Pentakel, dessen Schatten Maddie mit Phil verwechselt hatte.
Der König, der von der Seele jener Mädchen lebte, deren Körper er sich nahm, wie es ihm gefiel.
Der König, der in den Wintermonaten wieder zum Leben erwachte, wenn die Nächte lang und dunkel waren. Der, wenn seine Gier stärker und stärker wurde, junge Frauen im Dunklen mit seinen gezischten Obszönitäten verfolgte.
Sie hatte wieder das Bild vor sich, wie Tessa nervlich erschöpft und körperlich ausgelaugt am Fuß der schmalen Treppe stand, hinaufsah und lauschte. Maddie hatte oft genug miterlebt, wie ihre Freundin todmüde nach Hause gekommen und schon im Sitzen beim Essen eingeschlafen war. Wenn sich Lucius Glendowers Flüstern in ihre Träume stahl, konnten seine Worte ohne Schwierigkeiten in jene Bereiche
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