In deinen Armen
Bess kam zu Enid herunter. »Ich habe eine Bitte.«
Entschlossen, ihre Rolle zu spielen, wischte Enid sich eine Träne aus dem Augenwinkel – nur gespielt, natürlich – und tätschelte Lady Bess die Finger. »Was immer Sie wünschen, Mylady.«
»Ich möchte, dass Sie als die Hauptleidtragende am Begräbnis teilnehmen.«
Enid hätte sich fast verschluckt. »Ich soll die Funktion … der Hauptleidtragenden … übernehmen? Aber, Mylady, ich bin nicht MacLeans … was auch immer.«
»Sie haben ihn geliebt. Das ist offensichtlich. Sie haben ihn all die Monate umsorgt. Sie sind mit ihm durch ganz Schottland geflohen, um ihn nach Hause zu bringen. Sie haben sich diese Ehre verdient.«
»Ich bin aber nicht … ich kann nicht …« Enid sah sich verschreckt um.
Die Schotten nickten, und das eine oder andere Lächeln brach sich Bahn.
Mr. Kinman und Jackson standen, den Blick gesenkt, mit gefalteten Händen da, aber auch sie nickten.
Nur Lady Catriona richtete sich zu ihrer ganzen, erbosten Größe auf. »Was für eine schändliche Idee, Bess! Enid ist Stephens Witwe, und sie hatte nicht einmal den Anstand, Trauer zu tragen. Und jetzt soll sie bei der Beerdigung deines Sohnes deinen Platz einnehmen. Hast du denn gar kein Gespür für Schicklichkeit?«
Lady Bess ließ sich auf den Streit ein. »Hätte Enid geahnt, dass es irgendwo auf dieser Welt einen Mann wie Kiernan gibt, sie hätte nach ihm gesucht, bis sie ihn gefunden hätte. So hat sie sich mit Stephen begnügt, aber sie war im Herzen Kiernans Ehefrau und verdient es, diesen Platz auch einzunehmen.«
Enid versuchte, sich einzuschalten. »Bitte, Ladys …«
Schnaubend vor Wut, geiferte Lady Catriona: »Dieses Weibsstück von Eind hätte niemals etwas Besseres finden können als meinen Stephen. Sie hatte meinen Stephen überhaupt nicht verdient.«
Enid hatte gedacht, der lange, trübsinnige Tag könne kaum noch schlimmer werden, doch es war geschehen. Einmal mehr versenkte Lady Catriona ihre Klauen in Emd, um damit Lady Bess zu treffen. »Lady Bess, es wäre mir eine Ehre, bei den Begräbnisfeierlichkeiten die Pflichten einer Hauptleidtragenden zu übernehmen. Danke, dass Sie es mir angeboten haben.« Damit warf Enid den Kopf in den Nacken und marschierte die Treppe hinauf.
Schließlich konnte es nicht schaden, wenn sie so tat, als weine sie um MacLean. Sie wusste ja, dass er nicht tot war. Morgen würde sie, wenn alles gut ging, im Zug zurück nach London sitzen, und nichts würde sie je dazu bringen können, nach Schottland zurückzukehren. Nichts. Niemals.
Sie ging in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Sie schaute sich um. Der Raum erschien ihr immer noch so wie am ersten Tag: zu groß, zu prächtig, zu königlich. Wenn sie nicht bald in ihr Leben als Gesellschafterin und Krankenpflegerin zurückkehrte, dann würde sie irgendwann noch glauben, sie hätte ein Anrecht darauf, in solchem Luxus zu leben.
Die Nacht nahte, und eines der Dienstmädchen hatte die Trauer lange genug beiseite geschoben, um alle Kerzen im Raum zu entzünden. Aber Frauen wie Enid hatten keine Bediensteten. Was Enid am meisten Angst machte, war das Wissen – oh, sie konnte sich wirklich fast sicher sein –, dass sie MacLean tatsächlich zum Gatten hätte haben können, wenn sie es nur gewollt hätte. Ein unverbesserlich romantischer Teil von ihr wünschte sich, dass er sie hielt und von immer und ewig sprach, so wie damals in den Bergen. Was hatte er noch gesagt?
Das Blut in deinen Adern, das Mark deiner Knochen. Du wirst niemals mehr irgendwo hingehen, ohne zu wissen, dass ich in dir bin, dass ich dich stütze, dich am Leben halte. Ich bin ein Teil von dir. Du bist ein Teil von mir. Und wir sind ewig.
Sie drehte das Gesicht zur Tür und streichelte das glatte Holz. In jenem Moment hatte er jedes Wort ernst gemeint, und sie hatte ihm verzückt gelauscht.
Nur zwei Türen weiter den Gang hinunter lag MacLeans Schlafzimmer. In all den Wochen, die sie hier verbracht hatte, hatte sie sorgfältig darauf geachtet, nie herauszufinden, wo dieses Schlafzimmer sich befand. Aber heute Morgen hatte sie, zusammen mit dem ganzen Haushalt, dort aufmarschieren müssen, und nun wusste sie, wo er schlief – oder rastlos auf und ab ging.
Man brauchte ihr nicht erst zu sagen, dass die Tatenlosigkeit an seinen Nerven zerrte. Sie konnte sich vorstellen, wie sehr er sich danach sehnte, zumindest über die Vorgänge im Haus unterrichtet zu werden. Und sie zweifelte
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