In deinen Armen
Bess hatte sich als erstklassige Schauspielerin erwiesen. Als Enid an MacLeans Bett getreten war, hatte sie rasend vor Entsetzen alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Die Leute, die sich im Schlafzimmer versammelt hatten, hatten den Atem angehalten und darauf gewartet, dass Enid den Todesfall bestätigte. Sie hatte in MacLeans regloses Gesicht gesehen, und ihr Magen hatte sich vor Angst verkrampft. Sie hatte erst seine warmen Wangen berühren müssen, um selbst wieder daran zu glauben, dass er noch atmete. Erst dann war sie überhaupt in der Lage gewesen, ihre Rolle zu spielen, sich der Menge zuzuwenden und mit ernstem Nicken die traurige Nachricht zu bestätigen. Worauf sich ein Klagen erhoben hatte, das sie hatte wünschen lassen, diese Beerdigung nie vorgeschlagen zu haben.
Aber wie sonst hätten sie den Täter aus der Reserve locken sollen? Wenn sie seine Identität nicht herausbekämen, würde Enid nie nach Hause zurückkehren können. Wenn sie den Attentäter nicht fänden, würde MacLean niemals sicher sein. Und Enid wollte fort, und, was ihr noch wichtiger war, sie wollte keine Angst mehr um MacLean haben müssen. Genau genommen wollte sie überhaupt nie mehr an ihn denken.
»In Suffolk, als er so krank war, dass er glaubte, sterben zu müssen, hat er darum gebeten, in schottischer Tracht beerdigt zu werden.« Harrys Stimme dräng bis an den Rand der Menge durch. »Und obwohl er das Gedächtnis verloren hatte, hat er gebeten, seinen Sporran tragen zu dürfen, seinen kostbarsten Besitz.«
Die schottischen Männer und Frauen nickten ernst.
»Der hat seinem Vater gehört«, sagte Rob Hardie. »Ist aus einem Dachs, den der alte MacLean mit seinen eignen Händen umgebracht hat. Kiernan hat ihn immer dabeigehabt.«
»Ich habe ihn nie ein Wort über diesen Sporran verlieren hören«, protestierte Kinman.
Der arme Mr. Kinman. Er war völlig verstört und todtraurig, aber Harry hatte gesagt, je weniger Leute Bescheid wüssten, desto besser, und MacLean hatte dem zugestimmt.
Graeme nahm es auf sich, Kinman die Sache zu erklären. »Für 'nen Schotten ist der Sporran eins von seinen wichtigsten Sachen. Er bewahrt 'ne Locke drin auf oder 'nen Brief von seiner Liebsten.«
Enid sah Harry von der Seite an. Ohne es zu wissen, taten die Schotten das ihre, den Attentäter in die Irre zu führen.
Enid stachelte sie weiter auf. »Der MacLean hatte aber keine Geheimnisse. Überhaupt keine.«
»Aber was immer ihm wichtig war, es ist in dem Sporran drin«, sagte Graeme.
»Ich wünschte, ich hätte den Sporran meines armen Stephen. Ich wünschte, wir hätten ihn auf MacLean-Land beerdigen können. Wenn ich für Stephen nur eine Beerdigung hätte haben können.« Als das Gejammer zu ihren Gemächern hinaufgedrungen war, war Lady Catriona heruntergekommen und schwebte wie ein Geist durch die Halle, der im Elend Trost fand. »Wenn ich nur irgendein Erinnerungsstück hätte. Die Trauer reißt mich noch entzwei.« Sie tupfte sich mit dem Taschentuch die Augen.
»Ich gehe morgen früh zu MacLean und rasiere 'hin das arme, zerschnittene Gesicht.« Jackson hielt sich aufrecht, doch er zitterte, als stünde er kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Er war ein guter Herr. Das ist das Mindeste, was ich für ihn tun kann.«
Enid kämpfte gegen ihren Schrecken an. Wenn Jackson zu nah an MacLean herankam, dann würde er die Wahrheit erkennen. Und Jackson gehörte zu den am meisten verdächtigen Engländern.
Da erklang von oben an der Treppe Lady Bess' Stimme. »Nein. Ich könnte das nicht ertragen, dass sich in seinen letzten Augenblicken auf MacLean Castle jemand anderer um ihn kümmert. Ich habe ihn bereits rasiert. Er ist bereit. Bis auf seinen Sporran. Heute Nacht sperre ich mich damit in meinen Gemächern ein und weine über das letzte Stück, das mir von meinem Sohn und meinem Gatten geblieben ist. Morgen lege ich ihn Kiernan auf den armen, toten Körper, damit er damit begraben werden kann.«
Wieder weinte alles, und Enid musste mit den eigenen Tränen kämpfen. Aus irgendeinem Grund war diese Trauer ansteckend. Obwohl sie wusste, dass MacLean gesund und munter im ersten Stock war, ging ihr doch vieles durch den Kopf. Was, wenn er wirklich nicht mehr auf Erden wäre? Wie hätte sie die Vorstellung ertragen sollen, dass der Mann, den sie von der Schwelle des Todes zurückgeholt hatte, nicht mehr lächelte, sei es nun amüsiert, ausgelassen oder arrogant? Was hätte sie getan, hätte sie ihn nie wieder sehen dürfen?
Lady
Weitere Kostenlose Bücher