In den Armen der Nacht
ich es zeitlich hinbekomme. Dann hatte der Vater irgendwo noch eine Halbschwester oder so. Die rufe ich am besten für den Fall der Fälle auch noch an. Vielleicht kann ja eine von den beiden Frauen die Kleine übergangsweise zu sich nehmen, bis es den Dysons wieder besser geht.«
»Alles gut und schön, aber weshalb lassen wir sie nicht bis dahin, wo sie ist?«
Er runzelte die Stirn. »Du denkst, dass es ziemlich lange dauern kann, bis sie sie nehmen können. Vielleicht sogar ein paar Wochen?«
»Auszuschließen ist das nicht. Bis dahin sollte eine der Verwandten das Mädchen zu sich nehmen. Natürlich könnte auch das Jugendamt einen Platz für sie besorgen, aber das will ich vermeiden. Möglich, dass ich mich irre und die Dysons Nixie nehmen, aber ich dachte, für den Fall der Fälle gebe ich dir schon mal Bescheid.«
»Selbst, wenn sie länger bleiben muss, kriegen wir das sicher auf die eine oder andere Weise hin.«
»Okay. Tut mir leid, dass ich dich aufgehalten habe.«
»Kein Problem. Wir sehen uns dann zu Hause.«
Auch nach Ende des Gesprächs runzelte er weiterhin die Stirn.
Er dachte an das Kind in seinem Haus, ihren toten Bruder und das tote Mädchen, das in jener schicksalhaften Nacht bei ihr zu Gast gewesen war. Ein halbes Dutzend Leute warteten im Besprechungsraum auf ihn, doch sie könnten ganz bestimmt noch etwas länger warten. Was nützte einem alle Macht, wenn man nicht hin und wieder seine Muskeln spielen ließ?
Er ließ sich die Daten der Familie Swisher von Eves Computer schicken und ging die Namen der noch lebenden Verwandten durch.
Sie fingen an, die Nachbarn zu befragen, und arbeiteten sich, ausgehend vom Tatort, langsam erst in Richtung Osten und dann in Richtung Westen vor. Die meisten Türen blieben zu, denn die Menschen waren bei der Arbeit, und dort, wo geöffnet wurde, konnte man ihnen nicht weiterhelfen.
Ich habe nichts gesehen. Was für eine schreckliche Geschichte. Was für eine Tragödie. Ich habe nichts gehört. Diese armen Leute. Ich kann Ihnen nichts sagen.
»Was haben diese Gespräche Ihnen bisher gezeigt, Peabody? «, wandte Eve sich schließlich an ihre Partnerin.
»Schock, Entsetzen – die heimliche Erleichterung, dass man nicht selbst betroffen ist. Und jede Menge Angst.«
»All das. Und was haben die Leute uns über die Familie erzählt?«
»Dass sie wohl erzogene Kinder hatten und nett und freundlich waren.«
»So was hören wir nur selten. Ich habe das Gefühl, als wäre ich in eine völlig fremde Welt geraten, in der die Leute Plätzchen backen und sie Fremden auf der Straße schenken, weil es eine Freude ist, gut zu anderen zu sein.«
»Ein Plätzchen wäre jetzt nicht schlecht.«
Eve trat vor das nächste Zweifamilienhaus. »Was für eine nette Gegend. Lauter ordentliche Familien, in denen meistens beide Elternteile berufstätig sind. Also lauter Leute, die an einem Wochentag nachts um zwei in ihren Betten liegen, weil am nächsten Morgen früh der Wecker schrillt.«
Nachdenklich sah sie sich um. Nachdem selbst am Tag kaum Autos auf der Straße fuhren, herrschte mitten in der Nacht wahrscheinlich Grabesstille, ging es ihr durch den Kopf.
»Vielleicht finden wir ja jemanden, der nicht schlafen konnte und genau im rechten Augenblick aus dem Fenster gesehen oder einen kleinen Spaziergang unternommen hat. Falls jemand was gesehen hat, wird er es uns garantiert erzählen. Denn wenn in der direkten Nachbarschaft eine ganze Familie im Schlaf ermordet wird, hat man eine Heidenangst. Man will sich wieder sicher
fühlen, deshalb meldet man es brav der Polizei, falls man irgendwas Verdächtiges gesehen hat.«
Sie drückte auf die Klingel und hörte durch die Gegensprechanlage, dass sich jemand räusperte, bevor eine krächzende Stimme fragte: »Wer ist da?«
»Wir sind von der New Yorker Polizei.« Eve hielt ihre Dienstmarke gut sichtbar vor den Scanner. »Lieutenant Dallas und Detective Peabody.«
»Woher soll ich wissen, dass Sie keine Betrügerinnen sind?«
»Ma’am, Sie gucken gerade auf meine Dienstmarke. «
»Ich könnte mir auch so eine Marke machen lassen, und ich bin nicht von der Polizei.«
»Da haben Sie natürlich Recht. Können Sie die Nummer sehen, die auf der Marke steht?«
»Denken Sie, ich wäre blind?«
»Da ich hier draußen stehe, kann ich das nicht sagen. Aber wenn Sie auf dem Revier anrufen und dort meine Nummer nennen, wird man Ihnen sagen, wer ich bin.«
»Vielleicht ist die Marke echt, und Sie haben sie gestohlen.
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