In den Armen der Nacht
aus, sonst hätte man ihn nicht als Portier in einem solchen Gebäude engagiert.«
Nickend stieg Eve aus dem Fahrstuhl und wandte sich nach links.
Die Tür mit der 6-B wurde bereits geöffnet, bevor sie auch nur die Klingel fand.
Jenny Dyson wirkte deutlich älter als am Vortag. Älter, blasser und benommen, wie man es bei zwischen Schock und Schmerzen hin- und hergerissenen Unfallopfern häufig sah.
»Danke, dass Sie uns empfangen, Mrs Dyson.«
»Sie haben ihn gefunden. Sie haben den Mann gefunden, der meine Linnie getötet hat.«
»Nein, Ma’am. Dürfen wir vielleicht hereinkommen? «
»Ich dachte, Sie wären gekommen, um uns das zu sagen. Ich dachte … ja, kommen Sie rein.« Sie trat einen Schritt zurück und blickte auf ihr eigenes Wohnzimmer, als sähe sie es zum ersten Mal. »Mein Mann schläft. Er hat ein Beruhigungsmittel eingenommen. Er
kann nicht … Wissen Sie, die beiden standen einander unglaublich nahe. Linnie war ein echtes Papa-Kind.« Sie presste eine Hand vor ihren Mund und schüttelte den Kopf.
»Warum setzen wir uns nicht, Mrs Dyson?« Peabody nahm sie am Arm und führte sie zu einer langen, leuchtend roten Couch.
Der gesamte Raum war mit ausladenden Möbeln in leuchtenden Farben eingerichtet, die Wand hinter dem Sofa wurde von einem riesigen Gemälde mit einem, wie Eve fand, überdimensionalen Sonnenuntergang in grellen Rot-, gleißenden Gold- und leuchtenden Orangetönen beherrscht.
Es gab einen großen Fernseher und einen Stimmungsmonitor, die beide ausgeschaltet waren, schimmernd weiße Tische und ein großes, dreigeteiltes Fenster mit einem roten Vorhang, der fest zugezogen war.
Inmitten all der Fröhlichkeit wirkte Jenny Dyson noch farbloser als an der Tür. Wie eine verblichene Kontur und nicht wie eine Frau aus Fleisch und Blut.
»Ich habe nichts genommen. Der Arzt meinte, ich könnte und ich sollte auch was nehmen, aber das habe ich nicht getan.« Sie verschränkte ihre Finger und machte sie sofort wieder los. »Wenn ich etwas nähme, würde ich nichts mehr fühlen. Aber ich muss was fühlen. Wir haben sie gesehen.«
»Ja, ich weiß.« Eve nahm ihr gegenüber in einem leuchtend violetten Sessel Platz.
»Der Arzt meinte, sie hätte nicht gelitten.«
»Nein. Mir ist bewusst, dass das alles sehr schwierig für Sie ist.«
»Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
»Dann glaube ich nicht, dass Sie verstehen können,
wie es für uns ist.« In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Zorn, dann aber fuhr sie tonlos fort: »Ich, wir haben sie gezeugt. Sie war ein Teil von uns. Und sie war so wunderschön. Gutherzig und lustig. Glücklich. Wir haben ein so glückliches Kind herangezogen. Aber dann haben wir versagt. Wissen Sie, ich habe versagt. Ich habe sie nicht beschützt. Ich habe ihr keine Sicherheit geboten. Ich bin ihre Mutter, und ich habe sie nicht beschützt.«
»Mrs Dyson.« Da Eve spürte, dass die Frau kurz vor dem Zusammenbrechen war, fuhr sie sie mit scharfer Stimme an. »Sie haben Recht, ich kann nicht wirklich nachempfinden, wie es Ihnen geht, was Sie durchzumachen haben, was für ein Schicksalsschlag das für Sie ist. Aber eins weiß ich genau. Hören Sie mir zu?«
»Ja.«
»Es geht nicht darum, was Sie getan oder nicht getan haben, um Linnie zu beschützen. Es ist nicht Ihre Schuld, Sie haben nicht versagt. Weder Sie, Ihr Mann noch irgendjemand anderes hatte einen Einfluss auf das, was geschehen ist. Den hatten nur die Männer, die diese Taten begangen haben. Sie und niemand anderes haben die Verantwortung dafür. Und ich weiß noch etwas, was Ihnen sicher nicht ganz klar ist. Inzwischen sind auch wir verantwortlich für Linnie. Zwar können wir sie nicht mehr schützen, aber wir treten für sie ein. Und das müssen Sie auch.«
»Was kann ich tun?« Wieder und wieder verschränkte sie die Finger und machte sie voneinander los.
»Sie waren mit den Swishers befreundet.«
»Ja. Wir waren enge Freunde. Ja.«
»Hat einer von ihnen je erwähnt, dass er sich Sorgen oder Gedanken über die Sicherheit der Familie macht?«
»Nein. Tja, manchmal haben Keelie und ich uns darüber
unterhalten, was für ein Irrenhaus die Stadt sein kann. Was für Sicherheitsvorkehrungen man treffen muss, damit man überhaupt hier leben kann. Aber um etwas Konkretes ging es dabei nicht.«
»Wie stand es um ihre Ehe?«
»Wie bitte?«
»Sie waren befreundet. Hätte sie Ihnen erzählt, wenn es für sie noch jemand anderen gegeben hätte oder wenn sie die Vermutung gehabt hätte, dass ihr Mann eine
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