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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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der Hand einen Kassenbon von fast einem Meter Länge.
    Die Pflichtverteidigerin war eine große, elegante Frau von zurückhaltendem Auftreten. Ihr philippinischer Nachname und die Stupsnase ließen vermuten, dass ihre Herkunft sich sowohl auf die Mayflower als auch nach Manila zurückverfolgen ließ. Ruth »Ruthy« Bacalan-Howland war um die dreißig Jahre alt und überlegte jedes Mal ein oder zwei Sekunden, bevor sie etwas sagte. Sie sah dabei auf ihre Hände und zupfte auf eine ganz eigene Art am Batikstoff ihres langen Rocks. »Natürlich sollten Sie sich keines Verbrechens schuldig bekennen, das Sie nicht begangen haben, egal, wie gut der Deal aussieht«, sagte sie zu Araceli. » Mucha gente lo hace, supongo , aber eigentlich sollte das System so nicht funktionieren.«
    Sie saßen in einem Anwaltsberatungszimmer, das sie ganz für sich hatten. Ruthy Bacalan, öffentlich bestellte Pflichtverteidigerin, hatte zugehört, wie Araceli die Ereignisse schilderte, die sie »in diesen sehr seltsamen nordamerikanischen Zirkus« gebracht hatten, wie Araceli sich in ihrem nicht akzentfreien, aber klaren Englisch ausdrückte. Dann hatte die Anwältin das Angebot der Staatsanwaltschaft dargelegt, wobei sie sich gelegentlich ihres sicheren, allerdings ebenso wenig akzentfreien Spanisch bediente. Sie übersetzte »Vergehen« mit der naheliegendsten Entsprechung, die sie kannte: »delito menor« , Bagatelldelikt, was nicht ganz so unschuldig klang wie das Original. »Wenn Sie sich also dieses delito menor schuldig bekennen, dann wird man Sie aus der Haft entlassen – aber direkt in die Hände der migración . Im amerikanischen Rechtssystem wiegt dieses Vergehen so schwer, als wenn Sie eine rote Ampel überfahren hätten. Aber Sie werden nie wieder – legal – hierher zurückkehren können. Man wird Sie direkt der Ausländerpolizei übergeben, die hier im Bezirksgefängnis sitzt, auch wenn Sie, technisch gesprochen, ›entlassen‹ werden. Natürlich könnten Sie auch dann ausgewiesen werden, wenn Sie gewinnen und freigesprochen werden.« Ruthy Bacalan saß im rechten Winkel neben Araceli an einem quadratischen Tisch und hatte die langen Beine übereinandergeschlagen, wobei man ihre ledernen Wanderstiefel sah, die am Schaft rosa abgesetzt waren und rosa Schnürsenkel hatten. Die Pflichtverteidigerin trug diese Schuhe, weil sie im siebten Monat schwanger war und ihre vom Wasser geschwollenen Füße sie gelegentlich aus dem Gleichgewicht brachten. »Wenn Sie den Prozess durchziehen, dürfen Sie Zeugen aufrufen. Ich wäre Ihre Anwältin, und der Staat würde alle Kosten übernehmen. Umsonst. Aber auch hier gilt: Wenn Sie verlieren, könnten Sie für fünf Jahre ins Gefängnis wandern. Und dann würden Sie mit Sicherheit abgeschoben.« Araceli hörte einen Augenblick nicht mehr auf die Worte der Anwältin, sondern starrte die Schuhe an. Das sind Schuhe für eine aktive Frau, die gern im Freien unterwegs ist, dachte Araceli. Mädchenrosa und grobes Leder. Mit denen kann man als elegante Frau auf einen Berg steigen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich solche Schuhe noch nirgendwo in Mexiko City gesehen habe, nicht mal in der Santa Fe Mall.
    »Darf ich fragen, señorita , wo Sie diese Stiefel gekauft haben?«
    Ruthy Bacalan war einen Augenblick verblüfft – Menschen, deren Zukunft auf dem Spiel stand, fragten sonst nicht so oft nach ihren Schuhen.
    »Ach, die. Im Sport Chalet .«
    »Sollte ich je wieder aus diesem Gefängnis rauskommen und weiter in den USA leben dürfen«, sagte Araceli, »dann gehe ich zu diesem Chalet und kaufe mir solche Schuhe. Ich sage Ihnen also jetzt, dass ich hierbleiben und das höchst großzügige Angebot der Abschiebung nach Mexiko nicht annehmen will, weil die Estados Unidos de América ein Land sind, in dem Frauen solche Schuhe tragen können.«
    »Sie wollen also das Angebot der Staatsanwaltschaft nicht annehmen?«
    »Nein. ¿Para qué? «
    »Fantástico« , sagte Ruthy Bacalan und strahlte so jugendlich, als hätte die ernste Anwältin sich plötzlich an die studentische Version ihrer selbst erinnert. Sie hatte schon vorgehabt, das Amt der Pflichtverteidigerin niederzulegen, und das nicht, weil sie schwanger war und noch siebenundvierzig zu bearbeitende Fälle vor sich herschob. Ihre kürzliche Konversion zum Buddhismus half ihr, mit dem Stress fertigzuwerden, und sie hatte sich auf ein Leben als arbeitende Mutter eingestellt. Nein, Ruthy Bacalans Zweifel an ihrem Engagement lagen in dem Mangel an

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