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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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wenn ihre Mutter in ihrer Depression versank, die sie ein- oder zweimal im Jahr mehrere Tage lang vom Arbeiten abhielt. Und so war sie auch als Erwachsene gewesen, im Gästehaus am Paseo Linda Bonita. Doch jetzt erkannte Araceli, dass dieses ganze Land Kalifornien wie ein vergessenes und vernachlässigtes Haus war, und diese Schlussfolgerung wurde bestärkt durch das absurde Angebot, das ihr die Idealistin mit den rosa geränderten Stiefeln hatte machen müssen: Lüg, und du kommst frei. Aracelis Erkenntnis hatte sich allmählich angebahnt – im Privaten hatte sie es bereits im Paseo Linda Bonita sehen können, an den immer gereizteren Auseinandersetzungen zwischen Scott und Maureen, an der Unsicherheit und Wut über die ihnen zugedachten Familienrollen. Die gleiche Unruhe spürte sie auch, als sie mit Brandon und Keenan nach Los Angeles hineinfuhr, als der Mob in Huntington Park auf den Stadtrat losging, als die Frau mit los tres strikes ihre Fluchtpläne schmiedete, sich dann ergab und weinte. Sie wollte all den erschöpften Amerikanern am liebsten frisch gewaschene und gestärkte Kleider bereitlegen, sie wollte all die vertauschten Gegenstände putzen und wieder an ihren angestammten Ort zurücklegen.
    »Diese Gesetze, die Sie hier haben. In mancher Hinsicht sind sie sehr schön«, sagte Araceli. »Aber in anderer Hinsicht sind sie hässlich.«
    Die amerikanischen Polizisten entließen einen höflich, wenn sie wussten, dass man unschuldig war; sie akzeptierten anscheinend kein Schmiergeld und legten allen Besitz, den sie den Verhafteten abnahmen, in Plastiktüten, um ihn später zurückzugeben. Doch ihre Gerichte versuchten eine Unschuldige zu erpressen, bloß damit der Strom der Angeklagten ungehindert durch ihre Betonbauten hindurchfloss.
    »Entonces, a pelear« , sagte Araceli.
    Ruthy Bacalan strahlte. »Ja, wir kämpfen.« Sie erklärte, was als Nächstes passieren würde: Das Gericht würde eine Art »Mini-prozess« ansetzen, die Vorverhandlung. »Ich werde darauf drängen, dass das so bald wie möglich geschieht. Wenn wir die Vorverhandlung verlieren, was wahrscheinlich ist, dann gehen wir ins Hauptverfahren.«
    Die beiden Frauen schüttelten sich die Hand und umarmten sich halb, ehe sie den Raum durch verschiedene Türen verließen. Araceli nahm von der Vollzugsbeamtin einen Zettel entgegen und folgte einer gelben Linie auf dem Boden, die vom Besprechungszimmer wegführte und sich durch ein Labyrinth von Fluren schlängelte. Wenn sie gelegentlich ihre Zelle verließ, war Araceli jedes Mal überrascht von der Ausdehnung und Offenheit des Bezirksgefängnisses: Die Insassen schlurften ohne Begleitung über Korridore und Rolltreppen, Frauen gingen entspannten Schrittes in Grüppchen in die Kantine, mit Essenstabletts, Kartons, Umschlägen, geleitet von einem schmuddeligen Regenbogen auf den Boden gemalter Linien. Im Gefängnis herrschte die strukturierte Geschäftigkeit eines großen Bürogebäudes, eines seltsamen Unternehmens, in dem die Sekretärinnen ihr Haar mit schmutzigen Bändern zusammenhielten oder an den Schläfen abrasierten und wo alle Angestellten blaue oder gelbe Einteiler trugen.
    Sie ging zurück in ihren Abschnitt, zehn Minuten Fußmarsch durchs Ganglabyrinth, und dachte daran, was sie der Anwältin gesagt hatte: »Ich bin keine Kämpferin.« Aber vielleicht war sie doch eine. Sie könnte eine mexikanische Superhelden-Ringerin sein, die »Gefangene mit der Maske«, die in ihrem gelben Overall durch die Luft sprang, rosarote knöchelhohe Lederstiefel und ein lila Cape trug. Sie kicherte leise vor sich hin und fand es sehr angenehm, mal aus der Zelle gekommen zu sein und sich eine Stunde mit Ruthy unterhalten zu haben, bevor sie sich nun wieder an den eiligen Sekretärinnen in ihren gelben Einteilern vorbeidrängte, die alle Flure verstopften.
    Auf halbem Weg, kurz hinter der Abzweigung der orangefarbenen Linie Richtung Kantine, fühlte Araceli plötzlich einen Schlag auf den Kopf und stolperte, einen Augenblick blind. Sie landete bäuchlings auf dem Boden und konnte wieder sehen – gelbe und blaue und grüne Linien auf dem Estrich, und sie versuchte sich zu erinnern, welcher sie folgen musste. »Kinderdieb!«, schrie jemand von oben. »Kidnapperin!« Jemand trat ihr in den Rücken, als sie auf die Knie zu kommen versuchte, und warf sie wieder auf den harten, kalten Boden. Man versucht, mich umzubringen. Die Gefangenen standen im Kreis um sie herum, sie sah ihre Füße aus den Gummisandalen

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