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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Quatsch mehr. Der Bürgermeister wusste, diese Menschen beobachteten sein Schweigen in derartigen Fällen, sie zählten im Kopf mit, wie lange er sich zurückhielt. Sie erwarteten ständig, dass bei ihm die galoppierende Feigheit ausbrach.
    »Ich werde irgendwas sagen müssen«, sagte er schließlich.
    Der Berater legte die Hände zusammen und konzentrierte sich. Er war wortgewandt, historisch äußerst belesen, versiert in Fragen von Marketing und Botschaft. Schnell hatte er in groben Zügen im Kopf, was der Bürgermeister sagen könnte – der Trick war wie immer, eine im Grunde moderate und vorsichtige Position so zu vertreten, dass sie sich kühn, prinzipienfest und eloquent anhörte. Dieses Talent hatten alle großen amerikanischen Politiker mindestens seit Lincoln besessen. Er teilte dem Bürgermeister seine Vorstellungen mit, und als er fertig war, lächelte der ihn an und sagte: »Hervorragend.«
    »Das Entscheidende ist der Ton«, sagte der Berater. »Sie sollten überlegt klingen. Reif. Über den Dingen stehend.«
    Einige Stunden später war der Bürgermeister in East Hollywood, beim Trauergottesdienst für einen der letzten südkalifornischen Überlebenden des Völkermords an den Armeniern. Nach dem Ende der Veranstaltung sprach er vor der Tür mit vier Fernsehreportern, die ein paar belanglose Bemerkungen zur armenischen Gemeinde erwarteten. »Heute werde ich mich mal eurer erbarmen und euch echte Schlagzeilen liefern«, flüsterte er einer Reporterin ins Ohr. »Ich werde was über das mexikanische Kindermädchen sagen. Macht euch bereit.« Nach einem kurzen Getümmel, dem Einstöpseln der Mikrofone und der Positionierung von Kabeln und Kameras hob der Bürgermeister an.
    »Wie so viele Menschen habe ich die Verhaftung und nun die Anklage von Araceli Ramirez verfolgt. Es ist ein Fall, der viele Menschen beschäftigt und besorgt. Es steht mir sicher nicht zu, mich zu den Sachverhalten eines laufenden Gerichtsverfahrens zu äußern, aber ich möchte gern eine Bemerkung loswerden. Eine der wundervollen Einrichtungen in diesem Land ist, dass jedem Menschen, egal, ob arm oder reich, Einwanderer oder Einheimischer, ein faires Verfahren zusteht. Jeder ist nach den Tatsachen und nicht nach etwaigen Vorurteilen oder ideologischen Überzeugungen zu beurteilen. Die leidenschaftlichen Gefühle, die dieser Fall weckt, machen mir Sorgen. Ich glaube, alle sollten ein wenig Abstand gewinnen und die Fakten, nichts als die Fakten sprechen lassen. Wir gewähren unseren Strafverfolgern eine Menge Macht und Freiheiten, damit sie uns schützen – und das ist auch gut so. Aber wir vertrauen auch darauf, dass sie diese Macht verantwortungsbewusst einsetzen. Ich bin überzeugt, dass sie das auch in diesem Fall tun werden.«
    Zwei Stunden später schickte Ian Goller eine Mitschrift dieser Stellungnahme via Blackberry an seinen Chef, der an diesem Nachmittag Bakersfield bereiste. Der Oberstaatsanwalt von Orange County antwortete mit nur einem Wort: »Überraschend.« Gollers Gefühle waren heftiger. Das ist unerhört. Das ist noch nicht mal sein Zuständigkeitsbereich. Der Staatsanwalt war ein wenig in seinem Lokalstolz verletzt, bis er innehielt und darüber nachdachte, warum ein so ehrgeiziger und cleverer Politiker sich bemüßigt fühlte, den Prozess gegen Araceli N. Ramirez zu kommentieren. Ganz offensichtlich glaubte der Bürgermeister, dass Los Angeles und die Laguna Rancho Estates auf der gleichen unruhigen tektonischen Platte lagen. Dieser Mann wählte seine Worte mit Bedacht, um auf dem bebenden Boden nicht den Halt zu verlieren. Gollers eigener republikanischer Vorgesetzter würde möglicherweise bald ganz ähnliche politische Erschütterungen spüren und beschließen, es lohne das Risiko nicht, den Ramirez-Fall weiterzuverfolgen. In den »ernsthaften« politischen Kreisen Kaliforniens fürchtete man rechts wie links jedes ethnische Erdbeben, was dazu beitrug, dass das Einwanderungsproblem sich verfestigte und vertiefte.
    Je länger Araceli Ramirez in den Zellen und Gerichtssälen von Orange County herumhing, schloss Goller, desto größer war die politische Gefahr, die von ihr ausging. Der Bürgermeister von Los Angeles hatte mit seiner Stellungnahme vorgeblich vor einem zu schnellen Urteil warnen wollen. Doch seine kurze Bemerkung bestärkte Ian Goller nur weiterhin darin, dass sie so rasch wie möglich vom amerikanischen Boden und auf den Weg nach Mexiko geschafft werden musste.

22 Aracelis Rücken schmerzte, weil

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