In den Klauen des Bösen
Schwelle trat. »Kelly?« rief er laut.
Schweigen.
Das Haus wirkte jedoch keineswegs leer und verlassen.
»Vielleicht ist sie in ihrem Zimmer«, sagte Ted ohne Überzeugung.
Mary überwand die Furcht, die sie inzwischen gepackt hatte, und rannte zu Kellys Zimmer, doch im Flur vor dem Bad stand sie still.
Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie erstarrte. Ihre Tochter lag in einer Blutlache regungslos auf dem Boden, mit einer großen Scherbe des Spiegels in der Hand.
»Kelly? Oh, nein - Kelly, neeeiiin...« Der Schrei erstarb, bevor er ihr richtig über die Lippen gekommen war. Sie trat vor, ließ sich auf die Knie nieder, starrte hilflos auf die leblose Gestalt der Tochter hinab; und da erst spürte sie Ted hinter ihrem Rücken. »Tu etwas!« flüsterte sie. »Ruf die Ambulanz!«
Sie spürte plötzlich, wie erschöpft sie war. Es musste der Schock sein. Nein! befahl sie sich. Kelly braucht dich!
Jetzt nur nicht heulen! Nur nicht ohnmächtig werden! Kümmere dich um deine Tochter!
Sie öffnete Kellys rechte Hand. Das Glasstück fiel heraus und zersplitterte auf dem Boden. Kellys Handteller blutete. Angesichts des strömenden Blutes fühlte Mary sich seltsamerweise auf einmal besser. Und dann wusste sie auch warum.
Wäre Kelly tot gewesen, hätte das Bluten aufgehört.
Mary riß ein Handtuch vom Wandhalter, band es um Kellys verletzte Hand und begann ihr die blutverschmierte Kleidung vom Leib zu reißen.
Sie entdeckte eine weitere Wunde am Rumpf - ein tiefer Einschnitt. Kelly hatte ihn mit der linken Hand zugehalten, als sie blutend auf dem Boden lag. Mary nahm die Hand ihrer Tochter von der Wunde, wischte das Blut ab und suchte nach Glas. Als sie keine Splitter entdeckte, drückte sie das Handtuch an die Bauchverletzung. Als sie aufblickte, stand Ted aschfahl in der Tür.
»Sie lebt«, hauchte Mary. »Hast du...?«
»Ich habe die Polizei angerufen«, erwiderte Ted. »Sie schickt eine Ambulanz. Ich...« Sein Blick wanderte von Mary zum bleichen Gesicht der Tochter, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Sie darf nicht sterben!« flüsterte er. »Lieber Gott, laß sie nicht sterben!« Er ließ sich neben seiner Frau nieder und nahm Kellys Hand. Die Zeit schien stillzustehen. Eine unheimliche Ruhe senkte sich über das Haus.
In der Ferne hörten sie Sirenen näherkommen.
Mary spürte die Erschöpfung wie einen Schmerz, als sie sich im Allgemeinen Krankenhaus in Atlanta von dem Kunstledersofa erhob. Sie lief zur Eingangstür. Es dämmerte. Hatte sie wirklich die ganze Nacht dagesessen?
Natürlich nicht.
Die Andersens waren erst nach ein Uhr früh im Krankenhaus eingetroffen. Wenigstens zwei Stunden lang war Mary nervös vor der Notfallstation auf und ab geschritten, bis der Arzt - an seinen Namen konnte sie sich nicht mehr erinnern - herausgekommen war, um ihr mitzuteilen, dass Kelly sich außer Lebensgefahr befand. Die Bauchwunde, die so böse ausgesehen hatte, war nicht tief; lebenswichtige Organe waren durch den Glassplitter, mit dem Kelly sich gestochen hatte, nicht verletzt worden. Sie hatte eine Menge Blut verloren, aber die Wunden waren genäht.
Sie lebte, sie war bei Bewusstsein - und Mary und Ted hatten sie besuchen dürfen.
Ted hatte Mary gestützt. Mary war verwundert, dass sie ausgerechnet jetzt, da sie wusste, dass Kelly überleben würde, zusammenbrach. Als sie fürchtete, dass Kelly stürbe, da hatte Mary sich beherrscht, sich um Kellys Wunden gekümmert, nicht eine einzige Träne vergossen, sondern einfach getan, was getan werden musste.
Vor dem Krankenzimmer waren sie stehengeblieben. Sie hatten sich instinktiv angeschaut. Bis zu dem Augenblick hatte keiner laut beim Namen genannt, was vorgefallen war. Und wieder hielt Mary ihre Gefühle unter Kontrolle. Als sie sprach, war ihre Stimme ruhig und sicher gewesen.
»Sie hat sich umbringen wollen, Ted.«
Ted hatte den Kopf geschüttelt. »Niemals. Kelly...« Aber sie hatte ihm die Finger auf die Lippen gelegt.
»Doch. Deshalb ist sie vorher so still gewesen. Weil sie darüber nachgedacht hat. Und mehr werden wir heute nacht auch nicht tun. Wir werden nachdenken, aber wir werden nicht drüber sprechen - außer, dass Kelly darüber reden möchte. Wir wollen ihr nur das Gefühl geben, dass wir sie liebhaben und für sie da sind.«
Unruhig und bleich lag ihre Tochter im Bett, neben dem an einem IV-Stab ein Gefäß mit Blut hing, das durch ein Röhrchen zur Nadel in eine Vene an Kellys rechtem Arm geführt wurde. Kelly sah
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