Leuchtendes Land
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1. Kapitel
J eder an Bord wünschte, die lange Reise möge enden; das heißt jeder außer Clem Price, der das herrliche Abenteuer genoss. Der Junge liebte das Schiff – von der gemütlichen kleinen Kabine in dessen Bauch bis zum schwankenden Deck hoch über ihm, auf dem er sich ebenso behende bewegen konnte wie die Seeleute. Jeder Tag brachte neue, aufregende Erlebnisse. Bei gutem Wetter war dort oben eine Menge los. Einige Passagiere spielten Ringwerfen oder Decktennis, andere vollführten Turnübungen, schlenderten umher oder setzten sich in Liegestühle, um zu lesen oder miteinander zu plaudern, während die Mannschaft unter dem wachsamen Auge des Kapitäns ihre Arbeit verrichtete. Bei schlechtem Wetter blieben die Passagiere unter Deck, quetschten sich zu den Mahlzeiten an die langen Messetische oder vertrödelten die Zeit in ihren Kojen. Clem hingegen war immer in Bewegung. Er zog mit den Stewards durch das Schiff oder schlüpfte in die Kombüse, um mit dem Koch zu plaudern, der stets einen Apfelschnitz oder ein Stück Brot mit Bratenfett für den Jungen bereithielt.
Und dann war da der Ozean selbst, der Clem grenzenlose Freude bereitete. Er klammerte sich an die Reling, ließ seine Blicke über die endlosen Wogen schweifen und genoss die Launen des Meeres. Er war dabei, als zum ersten Mal Delphine gesichtet wurden, und würde niemals den ungeheuren Wal vergessen, der wie eine riesige Dampflok in der Nähe des Schiffes aus der Tiefe hervorgebrochen war. Clems Vater hatte seinen Sohn festgehalten, weil er gedacht hatte, er fürchte sich. Der Junge aber hatte ihn weggestoßen, da er nicht eine Sekunde dieses ehrfurchtgebietenden Schauspiels hatte versäumen wollen.
Wenn er nachts in seiner Koje lag, lauschte Clem gespannt auf die Geräusche des Schiffes. Zu Hause auf der Farm waren die Nächte still und reglos, doch hier begann die Dunkelheit zu leben. Er konnte das Tosen und Gurgeln der See hören, das Knarren der Planken, das Klirren der Stahlringe am Mast, die Rufe der Wachen, das schaurige Heulen des Windes, der bei Tag so viel fröhlicher klang. Clem machte es Spaß, diese vielen neuen Geräusche den Dingen, die sie erzeugten, zuzuordnen und in sein Repertoire aufzunehmen, als gelte es, die Instrumente eines Orchesters voneinander zu unterscheiden.
Diese Töne wurden von den weniger angenehmen Geräuschen seiner Mitpassagiere überlagert: den lauten Stimmen und dem Gelächter beim gemeinsamen Singen, manchmal aber auch von wütenden Schreien oder dem Gemurmel ernsthafter Gespräche. All das vermittelte dem Jungen Geborgenheit und sagte ihm, der schöne Clipper mit den drei hohen Masten werde ihn so sicher wie eine Vogelschwinge über die Meere tragen. Eines Nachts verstummten die Stimmen. Verstört von der plötzlichen Stille spitzte Clem die Ohren. Einen Moment lang dachte er, die Welt sei stehengeblieben, doch das Schiff pflügte weiter durchs Meer, hob und senkte sich, und die Stimme des Ozeans klang lauter denn je.
Er setzte sich in seiner Koje auf und spähte in die Dunkelheit. Seine Eltern und seine Schwester Alice waren noch nicht im Bett. Alice war schon neun und durfte, da sie drei Jahre älter war, länger aufbleiben als er, doch selbst sie hätte um diese Zeit schlafen müssen. Langsam glitt Clem aus seinem Bett und öffnete die Kabinentür, um einen Blick in den schmalen Gang zu werfen. Er entdeckte zwei Frauen, die sich leise unterhielten und dann in ihren Kabinen verschwanden. Wenigstens war er nicht allein an Bord.
Obwohl ihn das nicht ganz beruhigte, kehrte er in seine Koje zurück und ließ sich vom tröstenden Flüstern des Ozeans in den Schlaf wiegen, anstatt der unterschwelligen Angst nachzugeben, die sich in ihm regte.
Am Morgen weckte ihn sein Vater Noah mit einem Becher dünnem Tee und ließ sich schwer auf die Koje fallen, um mit ihm zu reden.
So etwas geschah nur selten, und Clem spürte ein gewisses Unbehagen. »Wo ist Mutter?«
»Du weißt, dass deine Mutter krank war«, sagte Noah seufzend. Clem nickte und nahm einen Schluck Tee.
»So krank, dass sie die letzte Woche im Krankenrevier verbracht hat«, fuhr sein Vater fort.
Clem hörte Alice schniefen, als weine sie, und er spähte zu ihrer Koje hoch. »Was ist mit Alice los?«
»Sie ist aufgeregt, Lass sie in Ruhe. Ich will mit dir sprechen. Hier, trink deinen Tee aus.« Noah hielt ihm den klobigen Becher hin, und Clem trank den Rest. »So ist es gut. Nun, Clem, es fällt mir furchtbar schwer, aber ich muss dir
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