In den Ruinen von Paris
forschend an und sah dann mit einem schmerzerfüllten Lächeln auf seine Hände herab. »Nein«, antwortete er. »Ich glaube, ich habe mir einen Fingernagel abgebrochen.« Charity lachte erleichtert, drehte sich herum und ging wieder zu der Shai-Priesterin zurück. Die alte Frau saß in der gleichen, erstarrten Haltung da, in der sie sie zurückgelassen hatte. Ihr Gesicht war bleich, und ihre Lippen zitterten, als versuche sie vergeblich, zu sprechen. Charity berührte sie an der Schulter, bewegte die andere Hand vor ihrem Gesicht hin und her und registrierte ohne sonderliche Überraschung, daß ihr Blick der Bewegung nicht folgte. Dabei war sie sicher, daß sie nicht verletzt war. Mit dieser Frau war etwas geschehen, das Charity erschreckte, obwohl oder vielleicht gerade weil sie es nicht verstand. Sie hatte einen Schock erlitten, von dem sie sich vielleicht nie wieder erholen würde, und das war nicht allein mit ihrem plötzlichen Auftauchen oder dem Kampf zu erklären, der zwischen ihnen und den beiden Ameisen entbrannt war. Sie stand wieder auf und deutete mit einer befehlenden Geste auf Gurk. »Kümmere dich um sie«, sagte sie. »Versuche, sie irgendwie wach zu bekommen. Wir müssen mit ihr reden.« Der Zwerg starrte sie einen Moment lang fast trotzig an, dann murmelte er ein einzelnes, abgehacktes Wort in einer Sprache, die Charity nie zuvor gehört hatte, und bewegte sich mit provozierender Langsamkeit auf die alte Frau zu. Charity schluckte die ärgerliche Bewegung auf Gurks unverständliche Antwort herunter und ging zu Net und dem Megamann zurück. Die junge Wasteländerin war neben dem gestürzten Megakrieger niedergekniet. Ihr Gesicht verriet das Entsetzen, mit dem sie der Anblick des verstümmelten, blutenden Körpers erfüllte. Aber sie hielt die Waffe, die Charity ihr zugeworfen hatte, noch immer auf die Stirn des Bewußtlosen gerichtet. Vorsichtig beugte sich Charity über den Megakrieger. Er lebte noch. Aller Logik zum Trotz bewegte sich die Brust unter der verkohlten, schwarzen Jacke in langsamen, schweren Stößen. Die meisten seiner Wunden hatten aufgehört zu bluten, einige wirkten schon nicht mehr so gefährlich wie noch vor Augenblicken. Sie sah auf, als Skudder ihr eine Waffe reichte. Offensichtlich hatte er die Strahler der Ameisen eingesammelt, denn er trug eine zweite der kleinen, bizarr geformten Pistolen in der rechten Hand. Charity nahm die Waffe entgegen, wollte sie instinktiv in die Tasche schieben und entschied sich dann, sie in der Hand zu behalten, obwohl sie wußte, daß ihr dieser Strahler herzlich wenig nützen würde, wenn das Geschöpf zu ihren Füßen die Augen aufschlug und sich entschloß, weiterzuleben. »Ist er tot?« fragte Skudder. Charity schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie. »Ich verstehe das nicht, aber er ... er lebt.« »Und das wird er auch weiterhin, wenn du noch lange genug herumtrödelst«, mischte sich Gurk giftig ein. »Verdammt noch mal, töte ihn! Versuche es wenigstens - ich weiß nicht einmal, ob es jetzt noch geht.« Charity beachtete ihn nicht. Gurk hatte vermutlich recht. Es war vielleicht ihre letzte Chance. Sie hatte gesehen, wozu dieses Geschöpf imstande war. Der scheinbar tödlich verwundete Mann vor ihr war kein Mann, sondern eine Ein-Mann-Armee, die Skudder, Net, Gurk und sie im Bruchteil eines Augenblicks überwältigen konnte, wenn sie erst wieder erwachte. Sie war nicht einmal sicher, ob man dieses Geschöpf überhaupt töten konnte. Und sie wollte es auch gar nicht. Skudder sah sie fragend an und hob die Hand mit der Waffe. Charity schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie leise. Skudder antwortete nicht, sondern zuckte nur unmerklich mit den Achseln und senkte den Arm wieder. Auch Net blickte sie verblüfft an, schwieg aber. Nur Gurk fuhr fort zu lamentieren: »Ich habe gleich gewußt, daß es Wahnsinn ist, sich mit euch einzulassen! Ihr seid ja verrückt!« »Bitte, Gurk, halt den Mund«, sagte Charity. Ihre Stimme klang ruhig, fast müde, aber vielleicht war es gerade dieser Ausdruck, den Gurk zum Verstummen brachte. Der Zwerg blickte sie weiter vorwurfsvoll an, aber er sagte nichts mehr, sondern drehte sich schließlich wie ein trotziges Kind herum und wandte sich der Shai-Priesterin zu. »Was tun wir jetzt mit ihm?« fragte Skudder nach einer Weile. Er deutete fragend auf den Megamann herab, dann in Worte meinte. Trotzdem lag in seinem Blick nicht die mindeste Spur von Furcht, sondern lediglich ein mildes,
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