VT06 - Erstarrte Zeit
Der Präsident packte van der Groot, riss ihn an seine breite Brust und küsste ihn auf die Wange. »Er hat mich nicht gekriegt!« Er fuhr herum, umarmte seine greise Beraterin zu seiner Rechten und küsste auch sie. »Ich lebe! Ich lebe noch!«
Van der Groot wischte sich verstohlen die Spucke von der Wange. Nyanga, die alte Voodoopriesterin und Präsidentenberaterin, sog an ihrer Meerschaumpfeife und verzog keine Miene. Charles Poronyoma aber, Präsident von Tansania, sprang auf und reckte die Fäuste hoch. »Gott hat den Kometen geschickt, um mich zu vernichten! Und er hat mich nicht erwischt!«
Er drehte sich nach allen Seiten, und da die ledergepolsterte Lounge auf einem erhöhten Podest stand, konnten alle in der Gemeinschaftshalle ihn sehen. Als nach und nach das Heulen und Singen und Beten verstummte, konnten auch alle ihn hören, denn der Präsident verfügte über eine tiefe, kräftige Stimme. »Sieh mich an, mein Volk!«, brüllte er. »Dein Kaiser lebt! Fürchte dich nicht, mein Volk – dein Kaiser lebt und du sollst auch leben!«
Zaghafte Hochrufe erhoben sich hie und da, die meisten Leute aber standen unter Schock oder waren einfach viel zu verzweifelt, um den Sinn seiner Worte zu erfassen. Einige der jungen weißen Models heulten hysterisch.
Schließlich erhob sich Eddie aus Rosenheim aus seinem Ledersessel, der ebenfalls auf dem Podest mit der Lounge stand. »Hoch lebe unser Kaiser Karl der Große!« Mit aller Kraft klopfte er seine großen fleischigen Hände zusammen. Auch Fred und Bodo standen auf, traten an den Rand des Podestes und klatschten ebenfalls, so laut sie konnten. Schließlich erhob sich auch Daniel Djananga, der Präsidentenvertreter, und stimmte in den Applaus mit ein.
Nach und nach war nun auch Beifall aus der Menge zu hören, zuerst in der direkten Umgebung der Lounge, dann auch von den Rändern der Gemeinschaftshalle. Van der Groot biss die Zähne zusammen, erhob sich und applaudierte dezent.
Viele schwarze und einige weiße Gesichter blickten zur Lounge und zu ihrem selbsternannten Kaiser herauf. Die meisten waren nass von Tränen, in den Blicken aller stand die Angst. Van der Groot selbst fühlte sich, als hätte man ihm den Brustkorb mit Beton gefüllt.
Nun war es also tatsächlich geschehen, das Unfassbare: Der Komet hatte die Erde getroffen. War es denn wirklich wahr?
Ein betrunkener Weißer stolperte aus dem Hauptgang zwischen die Menschenmenge. Die Leute wichen zur Seite und bildeten eine Gasse. Der Mann hielt eine Schnapsflasche in der Linken, schwankend näherte er sich dem Podest.
Es war Willi Keller, der Chauffeur des Präsidenten und neben der Voodoopriesterin und vor van der Groots Zeit dessen engster Vertrauter. Der Professor wusste, dass auch ihm ein Platz auf dem Podest reserviert war, doch Willi Keller war unpünktlich in letzter Zeit. Seit Weihnachten trank der Deutsche fast ununterbrochen; meist allein in seinem kleinen Privatraum. Jetzt hatte er sogar den Kometeneinschlag verpasst. Das fand er nicht weiter schlimm, denn um den Kometen zu verpassen, hatte er ja mit dem Trinken angefangen.
Trotz Applaus und Hochrufen konnte van der Groot den Deutschen lallen hören. Keller torkelte immer schneller durch Menge, ganz so, als wäre er unverhofft auf ein Gefälle geraten. Mit der Linken schwenkte er die fast leere Schnapsflasche, die Rechte hob er zum Hitlergruß – und im nächsten Moment lag er flach auf dem Boden. Jemand hatte ihm ein Bein gestellt.
Der gestürzte Willi Keller drehte sich auf den Rücken und schlief ein. Niemand kümmerte sich um ihn, und der Mann, der ihn zu Fall gebracht hatte, fuhr fort, in die Hände zu klatschen. Es war ein hünenhafter Kerl von dreißig oder fünfunddreißig Jahren. Er hatte ein breites Gesicht mit kräftigem Kinn. Auf seinem großen Schädel wucherte ein wahres Gestrüpp von Dreadlocks.
Dieser Mann war Jan van der Groots Assistent Ingo Vranitzki, alias Knox.
Neben ihm saß seine große, breit gebaute und strohblonde Freundin Eusebia. Eusebia war ein Spitzname, genau wie Knox einer war. Den bürgerlichen Namen der Kölnerin hatte Jan van der Groot vergessen.
Das reichlich exotische Paar müsste eigentlich irgendwo draußen unter dem Feuerhimmel und in einer von der Katastrophe verwüsteten Welt umherirren: Es hatte Freunden aus England die Lage des Bunkers verraten, den Musikern der Band Firegods und deren Hardcorefans, und darüber war der Kaiser sehr böse geworden.
Am letzten Weihnachtsfest tauchten die
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