In den Ruinen von Paris
mehr als fünfzig Jahren. Also war es besser, wenn sie nichts anrührten. Gott allein mochte wissen, was geschah, wenn man einen Nuklear-Motor ausschaltete, der seit fünfzig Jahren lief ... Sie wandte sich zur Tür und prallte fast gegen Net, die mit angeekelter Miene versuchte, ihre Kleider von dem grauen Morast zu reinigen. »Was zum Teufel ist das für ein Zeug?« schimpfte die junge Wasteländerin. »Es ist schlimmer als Kleister!« Jean sah sie fragend an, und Charity übersetzte sinngemäß. »Manna«, sagte Jean. Gurk sah ihn verwirrt an. »Wir nennen es nur so«, sagte er. »Ich würde Ihnen nicht raten, etwas davon zu essen. Aber der Ameisenbrut schmeckt es ausgezeichnet.« »Ameisenbrut?« »Junge Ameisen«, erklärte Jean. »Die Eier, die die Königin legt, werden in den Fluß gebracht, wo sie ausschlüpfen. Die Jungen leben ausschließlich vom Manna, bis sie ausgewachsen sind und an Land kriechen. Aber sie verschmähen auch eine kleine Zwischenmahlzeit nicht, wenn sie sie kriegen können.« »Das haben wir gemerkt«, erklärte Charity.
Kapitel 6
Er war verwirrt. Er hatte ein Gefühl kennengelernt, das er bis zu diesem Moment nicht gekannt, ja, nicht einmal für möglich gehalten hatte: das Gefühl, hilflos zu sein, nicht zu wissen, was er als nächstes tun sollte. Zum ersten Mal im Leben stand Kyle vor einer Situation, die er nicht einschätzen konnte. Alles war so anders gewesen; die Dinge hatten sich auf eine Art entwickelt, die ihn nicht nur überrascht, sondern ihn zutiefst erschüttert hatte. Er fühlte sich aus der Bahn geworfen. Sein Leben, das bisher nur aus Gehorchen bestanden hatte, war vollkommen durcheinander geraten. Er wußte nicht, wieso er hier war. Er wußte nicht, warum Stone ihn in den Transmitter gestoßen hatte. Und er wußte noch viel weniger, wieso er Captain Laird nicht gefangengenommen und die anderen getötet hatte, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Alles war so verwirrend, so scheinbar völlig sinnlos. Er spürte eine neue Art von Schmerz; eine tiefe, dunkle Leere, die sich in seinem Inneren ausbreitete. Er wußte nicht, wieso er überhaupt noch lebte. Von allen Rätseln war dies vielleicht das größte. Die genetische Umprogrammierung, die mit dem Zellcode seiner DNS vorgenommen worden war, machte ihn nicht nur vom Menschen zum Übermenschen, sondern hätte auf der Stelle seinen Tod herbeiführen müssen; im gleichen Moment, in dem er aus dem Transmitter trat und begriff, daß es tatsächlich Shai war, wo die Verbindung endete. Aber er lebte, und er hatte etwas Unvorstellbares getan: Er hatte die Herren verraten. Er hatte Captain Laird nicht nur nicht gefangengenommen, wie es sein Auftrag gewesen war, er hatte ihr und den anderen darüber hinaus zur Flucht verhelfen und dabei zwei Dienerkreaturen getötet. Außerdem trug er die Schuld am Tod der Priesterin. Die alte Frau mußte den Verstand verloren haben, als sie ihn erblickte. Was immer sein Erscheinen für sie bedeuten mochte, es mußte so schlimm gewesen sein, daß sie es vorgezogen hatte, lieber zu sterben als sich von ihm berühren zu lassen. Vielleicht, dachte er, lag es an seinen Verletzungen. Er war schwerer verwundet worden als jemals ein Megakrieger zuvor. Captain Lairds Angriff in der Wüste hatte ihn fast umgebracht. Er war auch längst nicht wieder völlig hergestellt gewesen, als er in das Shai-Taan eingedrungen war und sich plötzlich von Dutzenden von Stones eigenen Ameisen attackiert sah. Vielleicht war etwas in seinem Gehirn in Unordnung geraten. Kyle wußte, wie anfällig dieses Organ trotz aller Veränderungen war, die man daran vorgenommen hatte. Das war eine Gefahr, auf die ihn seine Lehrer immer wieder hingewiesen hatten: Gleichgültig, was man ihm antat, es gab kein Organ in seinem Körper, das sich nicht in kürzester Zeit selbst zu reparieren imstande war. Die einzige Ausnahme bildete das Gehirn. Es war zu komplex, als daß sich seine Zellen beliebig reproduzieren konnten. Natürlich hatte man auch für diesen Punkt vorgesorgt. Kyle wußte, daß es in seinem Gehirn eine biologische Schaltung gab, die nichts anderes tat, als ununterbrochen die Funktionen der übrigen Gehirnzellen zu überprüfen; wie ein ständig ablaufendes Computerprogramm in einem hochkomplizierten Rechner. Und daß diese Zellgruppe augenblicklich zu seinem Tod führen würde, wenn sie feststellte, daß seine Fähigkeit zu logischem Denken und Handeln über ein gewisses Maß hinaus eingeschränkt war. Aber
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