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In den Ruinen von Paris

In den Ruinen von Paris

Titel: In den Ruinen von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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geführt, in dem zwar seit fünfzig Jahren keine Abwässer mehr flössen, der aber trotzdem erbärmlich stank. Dann waren sie dem Kanal ein Stück gefolgt, bis Jean abermals stehenblieb und sich an einer Klappe im Boden zu schaffen machte; alles in totaler Finsternis, aber mit solcher Selbstverständlichkeit, als könnte er in der Dunkelheit sehen. Auf ein Zeichen hin waren sie eine Leiter hinuntergeklettert. Obwohl Charity nicht die Hand vor Augen sah, spürte sie doch, daß der Abgrund sehr tief sein mußte. Sie mußten sich längst unter dem Boden des ausgetrockneten Flusses befinden und stiegen immer weiter in die Tiefe. Jean führte sie durch ein wahres Labyrinth von Gängen, die manchmal so eng waren, daß sie auf Händen und Füßen kriechen mußten. Doch sie waren beileibe nicht allein hier unten. Mehrmals hörte Charity Geräusche, die weder sie noch einer der anderen verursachten, und einmal blieb Jean abrupt stehen und gebot ihnen flüsternd, still zu sein. Sie gehorchten, und obwohl Charity nicht den geringsten Laut hörte, hatte sie das Empfinden, angestarrt und gemustert zu werden - von Augen, die in der absoluten Dunkelheit hier unten so gut sehen konnten wie sie am hellen Tage. Nach einer Weile atmete Jean erleichtert auf und erklärte ihnen, daß sie weitergehen konnten. Charity fragte ihn nach dem Grund seiner Unruhe. »Ratten«, sagte er nur. Charity verspürte einen neuen eisigea Schauer. Sie haßte Ratten. Wenn diese angriffslustigen Nager in dieser Welt überlebt hatten, bedeutete das mit ziemlicher Sicherheit, daß sie sich ihr angepaßt hatten. Und Charity wollte einer Ratte, die in diesem Alptraumdschungel hauste, lieber nicht begegnen. »Wie weit ist es noch?« knurrte Skudder nach einer Weile. Seine Stimme klang unheimlich und verzerrt in dem hohen, runden Tunnel, durch den sie gingen. Es dauerte lange, bis das Echo seiner Worte zurückkam, und wie ihre Schritte klang es dumpf und metallisch. Jean antwortete nicht auf die Frage, und Charity begriff erst nach einigen Sekunden, daß er sie gar nicht verstanden hatte. Hastig übersetzte sie, und der Franzose antwortete: »Wir sind gleich da. Nur noch einen Augenblick.« Tatsächlich verging kaum eine Minute, bis er sie mit wenigen Worten aufforderte, einen Moment zu warten. Er entfernte sich in der Dunkelheit, aber nicht besonders weit. Dann hörten sie ihn an irgend etwas hantieren, und plötzlich flammte vor ihnen ein grelles, weißes Licht auf. Charity hob geblendet die Hand über die Augen. Auch Skudder und Net preßten erschrocken die Lider zusammen, während Gurk völlig unberührt dastand und in den grellen Lichtkegel starrte. Seinen Augen schien das grelle Licht nichts auszumachen. Charity fragte sich, ob er vielleicht während der letzten Minuten so schweigsam gewesen war, weil er der einzige war, der in dieser Dunkelheit etwas hatte sehen können. »Kommt her!« Heftig blinzelnd trat Charity auf ihn zu. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an das grelle Licht. Immerhin erkannte sie jetzt, daß sie sich tatsächlich in einem Rohr befanden, dessen Wände fleckig und von großen, rostigen Stellen wie von Ausschlag übersät waren. Ein intensiver, dumpfer Geruch hing in der Luft und machte das Atmen schwer. Im ersten Moment konnte Charity ihn nicht einordnen, aber dann fiel ihr Blick auf die fast knöcheltiefe Schicht aus schwarzem, klebrigem Schlamm, die den Boden des Rohres bedeckte, und sie wußten, wo sie waren. Das Rohr war Teil einer alten Pipeline; eine der zahllosen stählernen Adern, die die Weltmetropole mit dem schwarzen Blut versorgt hatte, das ihr Herz schlagen ließ: Öl. Zwei Schritte vor Jean blieb sie stehen und blickte mit einer Mischung aus Überraschung und Neugier zu ihm auf. Der junge Franzose stand nicht mehr auf dem Boden, sondern hockte auf einer sonderbaren Konstruktion, die Charity im ersten Moment an ein Motorrad erinnerte, aber das Gefährt hatte nicht zwei, sondern sechs Räder. Vier davon waren an einer Art Ausleger angebracht, die in einem Winkel von vielleicht dreißig Grad von dem Fahrzeug wegführten, so daß die Reifen an den aufwärts gekrümmten Innenwänden des Rohres entlangliefen. Das Fahrzeug wirkte nur auf den wirklich ersten Blick lächerlich, dann begriff Charity, wie sinnvoll eine solche Konstruktion in einem Rohr sein konnte. Es wäre ein halsbrecherisches Unternehmen, in einem drei Meter durchmessenden Stahlrohr Motorrad fahren zu wollen. Mit diesem Gefährt war es

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