In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
ruhig atmete, hatte ich nicht selten Schwierigkeiten einzuschlafen. Mein insomnisches Leben zeichnete sich damals bereits ab. Ich hörte nur die Spitzen des Gespräches und deshalb drückte ich mein Ohr an die Wand, um den aggressiven Dialog im Schlafzimmer meiner Eltern besser zu verstehen.
»Der erste ist ein verschlagener Schwächling und Bettnässer. Und der andere... Aus dem wird noch etwas Schlimmeres, wenn ich es zulasse. Sag mir also, worüber ich mich freuen soll.«
»Du beurteilst sie falsch«, erwiderte meine Mutter mit brüchiger Stimme. Sie war bekannt für ihr sauberes Tschechisch, das sie ohne Umgangsworte und ohne Dialekt sprach. Bevor ich zur Welt kam, war sie Lehrerin an einer Hauptschule in Prag gewesen. Ihr Deutsch dagegen klang ordinär. Vielleicht deshalb, weil sie es zumeist nur betrunken sprach.
»Sauf dir die Wahrheit nur schön«, brummte mein Vater. »Du hast sie schließlich zur Welt gebracht.«
Männer haben diese Gabe, nicht wahr? Diese Sätze, die ihnen so rausrutschen und sich in die Herzen der Mütter, der Ehefrauen, der Gefährtinnen bohren. Als wären sie erschaffen, um zu verletzen. Dornige Wesen mit scharfen Kanten, dazu bestimmt, sich an weichen, zerbrechlichen Gegenstücken zu reiben.
Ich starrte in die Dunkelheit. Um wirklich bestürzt zu sein, war ich bereits zu alt. Es war mehr ein Gefühl von Wut, das mich überkam. Der Zorn darüber, dass Menschen die Macht haben, andere Menschen in die Welt zu bringen.
Den Rest der Nacht lag ich unter meiner Decke und plante meine Flucht, meinen Ausbruch aus dieser Familie, meine Freiheit.
Ich bin nie geflohen. Vielleicht hatte mein Vater recht und ich war ein Schwächling. Aber immer wenn ich Roman ansah, fühlte ich mich schuldig. Ich hatte meinen Vater auf einen technischen Defekt hingewiesen, der ihm sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wäre. Und er hatte vor, den Fehler zu korrigieren.
Mit mir sprach er immer weniger, und es schien, als ob ich eine Art Waterloo für ihn darstellte. Doch Roman war nun gefordert. Er musste allein Bierkästen aus dem Auto in die Küche schleppen, noch härter Sport treiben und die Wochenenden mit Vater in der Garage verbringen. Dort machte er sich mit Sägen und Bohrmaschinen vertraut und lernte einen Reifen zu wechseln und Beton zu mischen.
Ich war inzwischen siebzehn und lebte in einem Universum, das niemand mehr verstand. Ich wollte mit achtzehn ausziehen. Und ich wusste, meine Eltern würden sich mir nicht in den Weg stellen.
Meine Mutter liebte mich bis zum letzten Augenblick. Aber ihre Welt und die meine hatten sich so sehr voneinander entfernt, dass es kaum eine Möglichkeit für uns gab zu kommunizieren. Denn ich lebte in Tagträumen und sie hinter einem Schleier aus Alkohol und Beruhigungstabletten. Sie konnte nur noch ihre positiven Gefühle für mich zum Ausdruck bringen. Für mehr reichte ihre Kraft nicht. Und in diesem Alter, an diesem Wegabschnitt, hatte ich nicht viel Interesse an Muttergefühlen.
Das Kartenhaus genannt Familie brach irgendwann endgültig zusammen. Vater hatte keine Chance. In Roman reifte etwas heran, das tausendmal stärker war als Vaters Wunschdenken. Und um uns herum, in den ausklingenden Achtzigern, entstand eine neue Welt, mit der es nicht schwerfiel in Resonanz zu treten. Mein Vater war machtlos gegen Frankie Goes To Hollywood und Bronski Beat. Er war machtlos gegen Oscar Wilde, der sich noch über Jahrhunderte hinweg wie ein Gespenst an allen homophoben Vätern rächen wird. Roman wollte kein Architekt oder Ingenieur werden, er liebte es zu tanzen. Er trieb gerne Sport, doch insgeheim träumte er nur davon, damit seinen Körper zu vervollkommnen und wie jene Helden auszusehen, die er in meinen Comics sah. Als er begriff, dass es in den Großstädten Orte gab, an denen niemals endende Partys stattfanden und Marc Almond wie ein Gott verehrt wurde, schmiedete auch er Fluchtpläne.
Irgendwann hatte er keine Lust mehr, Vaters Handwerksgeselle zu sein, und er sagte es ihm geradeheraus ins Gesicht. Ein intensiver Streit brach aus. Meine Mutter lallte in gebrochenem Deutsch etwas dazwischen, doch niemand nahm sie wahr. Ich stand abseits und beobachtete Roman. Sogar als Hetero konnte ich nicht übersehen, was für ein athletischer und zugleich charismatischer junger Mann aus ihm geworden war. Ich wirkte neben ihm wie ein verwahrloster Junkie.
»Wenn sich schon alles um mich drehen muss, wieso ist dann alles, was ich sage, immer nur Unsinn?« beschwerte sich
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