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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ales Pickar
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Roman laut. »Wieso spielt es keine Rolle, was ich will? Wieso kannst du mich nicht verstehen?!«
    »A co to má být? — Was soll das sein?!« In Vater brodelte es, während er ins Tschechische verfiel. Sein Zorn zeigte sich nicht durch lautes Brüllen. Stattdessen blickte er an einem vorbei und die Augen hinter der grauen Plastikbrille bekamen einen glasigen Ausdruck. »Was soll ich verstehen?« brummte er nervös. »Was soll ich verstehen? Du bist in einem schwierigen Alter. In Ordnung? Wie dein Bruder.« Er zeigte auf mich, als wäre ich eine Figur im Kabinett von Madame Tussauds. Ich sah nur auf Roman zurück und versuchte ihm mit meinem Blick zu sagen: »Warte nur einige Sekunden und du wirst genauso ein Unfall sein wie ich.«
    »Du stehst an der gleichen Gabelung. Vor Entscheidungen! Ich werde nicht zulassen, dass du dir Chancen verbaust, die ich nie hatte.«
    »Dann ist es meine Gabelung. Meine Entscheidung«, erwiderte Roman auf Deutsch. Er wollte nicht, dass die Auseinandersetzung in Tschechisch geführt wurde, da er viele Worte bereits vergessen hatte und das Sprechen in seiner alten Muttersprache ihm schwerfiel. »Ich will kein Architekt, Ingenieur oder Landvermesser sein. Das hat mit mir nichts zu tun. Ich will meinen eigenen Weg gehen.«
    »Weg? Was für ein Weg?« Vater kam Roman bedrohlich nahe und zischte mit zittriger Stimme: »Sag´s mir. Was für ein Weg?«
    »Ich will es einfach herausfinden, OK? Ich will nach München gehen und es herausfinden.«
    Vater schlug sich auf die Stirn und starrte kurz zur Mutter hin. »Hörst du das? Hörst du das? Er redet schon wie der andere. Wir hätten sie schon vor Jahren trennen sollen.« Er wandte sich wieder Roman zu und dirigierte ihm mit seinem Zeigefinger unter der Nase. »Jeder kann es dir sagen. Jeder! Wenn du in diesem Alter die falsche Abzweigung nimmst. Das... Das wird dich dein ganzes Leben begleiten. Verstehst du? Dein ganzes Leben lang! Bewerbungen. Stets ein Problem. Geld. Stets ein Problem. Familie. Stets ein Problem...«
    Roman zitterte am ganzen Körper und blickte durch den Raum. Er sah Mutter an, er sah mich an, er sah zurück zu Vater.
    »Ich pfeife auf Familie«, bellte Roman los. »Ich pfeife auf Frauen.«
    »Weil du jung bist«, erwiderte Vater. Seine Stimme glich beinahe einem konspirativen Flüstern. »Das wird nicht immer so sein.«
    »Du kapierst es wirklich nicht, oder?« raunte ihm Roman zu. »Das Wort heißt schwul . Fang an, dich daran zu gewöhnen. Du wirst es immer öfter hören...«
    Der Effekt war entsprechend. Mein Vater schwieg einige Augenblicke. Er sah sich um und suchte nach Orientierung.
    »Ich will das nicht hören...«, brummte er schließlich und es war zu spüren, wie sich unter dem Topfdeckel Dampf sammelte. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest! Schmink dir das ab, hörst du!«
    »Abschminken?« Roman lachte hysterisch. »Das ist nichts, was man sich abschminkt. Das bin ich!«
    »Nimmst du Drogen, Junge?!«
    Die Mundwinkel unsers Vaters waren tief nach unten gezogen und er stieß mit seinem Zeigefinger gegen Romans Brustkorb. »Was für Drogen nimmst du? Sicher etwas, das deinen Verstand kaputt macht...«
    Unsere Mutter war inzwischen an die Wohnzimmerkommode getreten, zog aus einer der Schubladen einen Blister und drückte sich zwei Tabletten in die Hand. Sie warf sie entgeistert in ihren Mund und blickte uns starr an.
    »Es ist nur eine Phase«, äußerte sie aus dem Hintergrund mit kratziger Stimme.
    »Wenn´s eine Phase ist, werde ich ihm schon nachhelfen, dass sie umso schneller vorbeigeht«, zischte Vater ohne sie anzusehen.
    Roman zog in der Eskalation nach. Er begann Vater zu verhöhnen. Als älterer Bruder hätte ich ihm bescheinigen können, dass das ein Fehler war. Doch dafür blieb keine Zeit.
    »Hey, akzeptier´s einfach, OK! Wenn du an einer Baustelle vorbeigehst, siehst du nur den Job, den du drüben hattest und hier in Deutschland nicht mehr haben kannst. Aber wenn ich an einer Baustelle vorbei gehe, suche ich nur nach gutgebauten Kerlen mit Schutzhelmen.«
    Das waren halt die Achtziger. Geschmacklich vollkommen wirr. Das Klischee des muskulösen Bauarbeiters in engen Jeans hatte es mir angetan und ich brach am Ende von Romans Satz in Gelächter aus. Mein Vater sah mich einen Sekundenbruchteil an und seine Augen verengten sich. Als hätte er nun alle Zusammenhänge verstanden und erkannt, dass die Schuld an der ganzen Misere bei mir zu finden sei. Bei mir, dem Satan. Er stürzte sich auf mich,

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