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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ales Pickar
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dreizehn. Mein Bruder zeigte großes Interesse an meinen Comics. Mir war ganz klar, dass nun auch er entdeckt hatte, dass Supergirl einen so kurzen Rock besaß, dass man ganz leicht ihre Unterwäsche sehen konnte, und dass das Kostüm von Halo und Black Canary keinen Wunsch offenließ. Also erklärte ich Roman, dass ich ihn kaltblütig töten würde, wenn er jemals eine Seite knicken, zerschneiden oder beschmieren sollte. Nachdem das geklärt war, ließ ich ihn an meiner damals noch kleinen, wertvollen Sammlung teilhaben. Ich war überrascht, dass er schon bald einen Papierblock in die Hand nahm und viele der Bilder recht überzeugend nachzeichnen konnte. Perspektiven und Größenverhältnisse waren ihm damals noch fremd, und viele der Skizzen wirkten am Anfang misslungen, doch schnell wurde mir sein Talent bewusst. Auch unser Vater erkannte es und sprach zufrieden davon, dass Roman technische Zeichnungen leichtfallen würden, sollte er ebenfalls die Laufbahn eines Ingenieurs einschlagen.
    Ich empfand keinen Neid wegen seines Talents. Statt dessen träumten wir von jetzt an davon, Comic-Autoren zu werden. Ich sollte die Storys schreiben, er würde sie zeichnen. Doch obwohl Romans Fähigkeiten zu zeichnen wuchsen und reiften, wurde ich immer unzufriedener mit den Resultaten, da er immer weniger Power Woman und Batgirl zeichnete, sondern sich auf Green Lantern, den roten Blitz, Batman oder den Hawkman spezialisierte. Die Wand über seinem Bett war geschmückt mit Bleistift- und Pastellzeichnungen von muskulösen Superhelden in den verschiedensten Verrenkungen und Sprüngen.
    Pubertär, getränkt im eigenen Testosteron, stand ich davor und spürte noch den Geruch von Desinfektionswasser auf den Pickeln in meinem Gesicht — und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.
    »Roman ist schwul. Haha — ha. So geil. Schwul. Haha — ha«, begann ich lachend zu schreien. Ich dachte damals, wie phantastisch das wäre, wenn der Lichtkegel all der väterlichen Aufmerksamkeit komplett auf das neue Sorgenkind abwandern würde. Das Auge Saurons soll sich doch mal mit Roman beschäftigen. Wenn er nicht so perfekt wäre, würde meine Schafswolle nicht mehr so schwarz anmuten.
    »Ruhe!« donnerte es erwartungsgemäß aus dem Wohnzimmer. Nun, es donnerte nicht unbedingt. Mein Vater war eher ein stiller Mann, dessen Stimme sogar dann recht dünn und emotionslos klang, wenn er schrie.
    Er nahm die anachronistische Pfeife aus dem Mund und sah mich tadelnd an. Jetzt, in diesem Moment, in dem ich daran denke, spüre ich diesen unangenehmen Geruch, der uns die gesamte Kindheit begleitete. Heute noch empfinde ich ein unangenehmes Stechen im Hinterkopf, wenn ich im Vorbeigehen brennenden Pfeifentabak rieche.
    Er trug eine altmodische graue Strickjacke, die ihn stets bieder und streng aussehen ließ, und hielt noch die gefaltete Zeitung in der Hand, die er offensichtlich gerade gelesen hatte.
    »Bist du nicht zu alt, um hier herumzubrüllen und Unsinn zu erzählen?« herrschte er mich an. Er war kein Mann langer Sätze und großer Worte, und so war das hier für seine Verhältnisse bereits eine halbe Ansprache. Ich grinste schuldbewusst und sah auf den Boden.
    »Hast du sonst nichts zu tun?!«
    Ich sah Vater kurz an. Etwas in seinen Augen war anders als sonst. Natürlich verstand ich sehr wohl das Tabu, das ich hier berührt hatte. Zumindest soweit ein pubertierender Knabe es verstehen konnte. Was war es nur, das ich in seinen Augen sah? Ohne Zweifel, es war Angst.
    Damals verkroch ich mich lieber in meine Ecke und starrte mechanisch in ein Biologiebuch. Meine Mundwinkel zuckten noch immer, während ich mir auf die Unterlippe biss.
    Als ich kurz hochsah, stand Vater noch immer da und blickte meinen Bruder lange schweigend an. Roman saß ratlos auf seinem Bett, umgeben von den eigenen Bildern und Plakaten. Er hatte ein unschlüssiges Lächeln auf den Lippen, schien jedoch nicht zu verstehen, worum es ging. Mein Vater starrte ihn an, die Bilder. Damals begriff ich nicht, wie fassungslos er über die Büchse der Pandora war, die hier jemand geöffnet hatte. Welcome To The Pleasuredome!
    Dann verließ er wortlos das Zimmer.
    Erst Minuten später fiel mir auf, dass er die Zeitung nicht einfach in seiner Hand gehalten hatte, sondern sie geradezu mit einem verkrampften Griff zusammengeknüllt hatte.
    Es war sicher kein Zufall, dass ich einige Wochen später in der Nacht einen Streit meiner Eltern mithörte. Während Roman am anderen Ende des Zimmers

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