In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
blickte sie mit den Augen eines angehenden Fotomodels kokett in die Kamera. Ich hatte nie verstanden, was diese Frau mit meiner Mutter zu tun hatte, die ich als eine vollbusige, leicht korpulente Hausfrau kannte, die in jeder Schublade und jeder Handtasche genügend Tabletten auf Vorrat hatte und mit einem steifen, trockenen Spießer verheiratet war. Ich hätte gerne die Frau auf den Fotos kennengelernt.
Langsam dämmerte mir, dass die Kluft zwischen dieser unbekannten und irgendwie geheimnisvollen Frau aus den Sechzigern und meiner Mutter meinen Namen trug.
Abgesehen von den üblichen Grübeleien, die unentwegt durch meinen Kopf spuken, berührte mich die Beisetzung nicht besonders. Es war eine einmalige Chance, diese breite, schwarze Sonnenbrille aus Plastik, die aussah, als hätte Jean Gabin sie in einem Umkleideraum vergessen, auszuprobieren.
Ich hatte stets wenig Respekt vor dem Leben. Die Resultate des Lebens zeigten mir nur, dass die Menschen Heuchler sind und die Welt ein zu verrückter Ort, um sich als Gast hier allzu wichtig zu nehmen. Heiliges Leben? Dass ich nicht lache. Ist das Leben denn heilig in einem chinesischen Straflager inmitten von Tibet? War das Leben heilig, als wir in Ruanda zugesehen haben? Ich spucke auf die Heiligkeit eures Lebens. Wenn es Gründe gab, weshalb ich nicht bereit war, Selbstmord zu begehen — so war es vor allem das Unbehagen, eine verwesende Leiche zu hinterlassen, auf deren schleichenden, alles durchdringenden Gestank schließlich die Nachbarn aufmerksam würden. Genauso wenig gefiel mir die Idee, dass Possen reißende Polizisten und mir beinahe unbekannte Verwandte über meinen obskuren Besitz herfielen und sich anmaßten, daraus ein Psychogramm zu stricken, um dann neunmalklug so zu tun, als wäre ihnen alles klar. Nein, danke!
Doch das änderte nichts daran, dass die Planeten sich nicht schneller oder langsamer drehten, wenn der nackte Affe irgendwo schwer atmend verendete.
1.05 Das Weib bei den Naturvölkern
Hauswart Mahr ist der General in diesem Spektakel. Es gibt hoch oben unter der Decke ein kleines Lüftungsgitter, durch das man in den benachbarten Raum hindurch blicken kann. Es ist ein schmutziges Drecksloch mit unverputzten Wänden und einem kahlen Boden. Wir haben in der Abstellkammer das Licht wieder ausgemacht und sind auf die Kisten mit Waschmitteln gestiegen. Durch das schmale Gitter kann man das Schlachtfeld ganz gut überblicken. Manzio gibt mir den Vortritt. Er kennt die Show schon.
Das Mädchen steht augenscheinlich unter Drogen. Auch Herr Mahr greift ständig zu einem Fläschchen, das neben der recht eklig wirkenden Matratze liegt und hält es sich unter die Nase.
Was wissen wir eigentlich über die Menschen um uns herum? Sie leben in leisen Bienenstöcken, mit ihren kleinen Geheimnissen, denen niemand auf den Grund kommen darf. Die große, unübersichtliche Tafel mit Hunderten von Klingeln, direkt neben der Eingangstür zu einem Hochhaus, ist das Muster, hinter dem sich Niederlagen und Wut verbergen. Und manchmal stürzt die Fassade ein, und dann wird ein Streit auf den Gang hinausgetragen und hallt durch die Stockwerke. Oder das dunkle Poltern eines gestürzten Trinkers, der versucht seine Wohnung zu erreichen, dringt an unser Ohr. Die hallende, kirchenähnliche Natur der Gänge und Zwischengeschosse in Hochhäusern mahnt geradezu zur Stille. Nur das Zuklappen von Türen und das triste Einschnappen von Schlössern durchbricht diese Konvention. Wo Stille ist, ist auch Frieden. Und was hinter den Türen passiert, geht niemanden etwas an. Hier, versteckt in einer Abstellkammer, sehe ich eine sehr extreme Variante von Privatsphäre.
Das asiatische Mädchen verzieht das Gesicht, als würde es gegen Regen und Sturm ankämpfen. Es reagiert aber nicht wie eine Frau, der das hier zum ersten Mal widerfährt. Ihr einziger Vorteil in dieser misslichen Lage ist die Tatsache, dass Herr Mahr nicht lange auf sich warten lässt.
Schon sitzt der Hausmeister am Rande der Matratze, starrt auf die heruntergezogene Latzhose zwischen seinen Unterschenkeln und atmet erschöpft. Seine Lunge pfeift und krächzt wie ein Scuba-Atemgerät. Ja, so habe ich mir immer Darth Vader mit heruntergezogener Hose vorgestellt. Sein kleiner Pimmel hängt schlapp unter dem wuchtigen, behaarten Bauch. Etwas verschämt greift er nach dem Fläschchen und steckt es ein. Dann zieht er die Latzhose wieder hoch und knöpft sie zu.
»Was soll ich mit euch sonst machen?« sagt Mahr
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