In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Munchies. Dafür war mir der Geschmack stets etwas zu monoton. Aber wir hatten nichts anderes da. Bei uns beiden war die Wechselbeziehung zwischen THC und den Geschmacksknospen recht ausgeprägt. Der Fressflash kam regelmäßig. Manzio griff in den Topf und brütete, die bunten Gummibärchen langsam zwischen seine Mahlwerkzeuge steckend, vor sich hin. Es war mir unbegreiflich, warum erfolgreiche Dope-Verchecker wie wir nicht einen Kühlschrank voller Fressalien hatten. Am Geld konnte es nicht liegen.
»Ein Geheimbund«, überlegt Manzio. »So wie die Freimaurer. Da war auch Mozart dabei.«
»Was glaubst du, gibt er ihnen?«
»Pervitin. Und selber knallt er sich Poppers rein. Das hält nur kurz an und so verliert er nicht die Kontrolle.« Er macht dabei eine typisch italienische Bewegung, die deutlich demonstriert, dass er Rufus Mahr für ein Stück Dreck hält. »Wir müssen herausfinden, woher die Frauen kommen«, fährt er fort.
»Wohl Thailand«, mutmaße ich.
Manzio steht auf, sammelt das Gleichgewicht und begibt sich dann hinaus aus meiner Miniaturwohnung. Ich krame währenddessen in meinen CDs um schließlich die Groove Zone einzulegen. Ich überspringe einige Tracks. Nach einer Weile kehrt Manzio zurück, mit einem dicken Buch in der Hand.
»Das habe ich auf einem Flohmarkt im Kunstpark-Ost gekauft«, erklärt er.
Das Buch ist wohl aus den Vierzigern oder Fünfzigern. Von dem relativ gut erhaltenen Umschlag blickt verträumt eine schwarzweiße Südseeschönheit. Hinter ihr wurden recht dadaistisch einige Palmen hinein retuschiert und auch ein Stück Meer oder Ozean. Auf dem Einband steht: »Das Weib bei den Naturvölkern«. Von Dr. Hendrik de Vries. Die Titelseite verspricht auch den Zusatzteil »Die Asiatin« und »Die Slawin«. Ungefähr so, wie man heute Bonustracks auf CDs findet. Ein Manzio-Buch ersten Grades. Ich warte gespannt, dass er mir die Funktion des Buches in dieser seltsamen Geschichte offenbart.
»Sie sah aus wie auf Pornobildern aus dem Internet«, brumme ich nachdenklich. Durch meinen Kopf schwirren so viele Gedanken.
»Hier.« Manzio deutet auf einige Fotos in dem Buch. Es zeigt junge Frauen bei der Arbeit in Fabriken oder auf der Straße. »Thailänderinnen oder Indonesierinnen.«
»Vielleicht«, brumme ich. »Aber warum ist es wichtig?«
Ich ziehe an der Bong und lasse das Shothole los. Ich beobachte ihn mit einem langen Blick, während die Moleküle über die Autobahnen meines Körpers driften. Vor den Lautsprechern verweben sich zaghaft die Klänge von »To The Space«, um sich schließlich in einen nächtlichen Flug durch die Stahlbeton-Canyons einer Großstadt zu verwandeln. Sanftes Rasen. Lucky People Center. Entspannt lege ich meinen Kopf in den Nacken und lasse den wertlosen Rauch hinaus. Worüber sprachen wir gerade? Ach ja... »Japanerinnen, Thailänderinnen, Burmesinnen, Chinesinnen... Scheißegal, Mann...«
Manzio blickt noch immer in das Buch, den Kopf leicht wippend in innerer Zustimmung, als hätte er aus diesem kurzen Exkurs in die sehr attraktive Welt von Dr. Hendrik de Vries eine Menge nützlichen Wissens mitgebracht. Notorische Kiffer eigenen sich gut als Musiker, Journalisten oder Schriftsteller. Das Gras macht sie zwar nicht blöd, führt aber zu dieser subjektiven Bewertung von Informationen und ihrer Relevanz im Alltag. Das hat mich schon immer vor den Kopf gestoßen. Wenn ein Kiffer Informationen braucht, dann geht er ins Internet, denn der Weg in ein Staatsarchiv überfordert ihn vollkommen oder erscheint ihm wenigstens als eine unnötige Hürde, gegen die er Tausende Argumente hervorbringen kann. Angefangen damit, dass es den Aufwand nicht lohnt, bis hin zu der Aussage, dass das Staatsarchiv das »Establishment« vertritt und somit ohnehin keine objektiven Materialien bietet, da es ja dem konservativen, reaktionären System dient. Oder irgendwas ähnlich verspultes. Er geht lieber online und zieht sich da in wenigen Minuten Tonnen an nichtrevidierten und ungeprüften Texten herunter, die zwar in der Tat durchaus das Prädikat »unzensiert« verdienen, aber überwiegend von einem Haufen anderer bekiffter Studenten geschrieben wurden, die noch nie etwas für Geld getan haben. Oh, mein Kopf...
»Du Halbfreak. Ist nicht scheißegal...«
»Was?« Ich reiße mich aus den Gedanken und blicke wieder auf die Fotos in dem Buch. Dr. de Vries scheint einen ähnlichen Geschmack zu haben wie Herr Mahr. Anderseits, warum soll man in einem Ethnologiebuch nicht die
Weitere Kostenlose Bücher