In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
erblicke einen schwarzgekleideten Mann mit einer Maschinenpistole in der Hand. Wer hat das Überraschungsmoment? Schwer zu sagen. Der Soldat zieht sein kurzes, modernes und ganz sicher äußerst automatisches Gewehr hoch. Was ich dann sehe, ist sehr interessant. Manzio steht schon längst aufrecht, wie eine Bogensehne und reißt mit geübter Selbstbeherrschung den Tonfa-Stock aus seinem Gürtel. Der Aufprall ist hart und sehr zielsicher. Die Abwesenheit jeglicher Geräusche, außer der dumpfen, hölzernen Schläge gegen die beiden Schläfen des Mannes, überrascht mich. Ta-dam!
Manzio schafft es sogar, den Unbekannten während des Falls aufzufangen und langsam zu Boden gleiten zu lassen. Dann sieht er sich um, beobachtet die Mädchen, mich, den Raum. Er wendet sich wieder mir zu.
»Wir müssen uns jetzt die Mädchen schnappen und abhauen«, sage ich mit einer etwas erstickten Stimme.
»Mädchen«, wiederholt er fast nachdenklich. »Nein, ich muss da hinein.«
Er zieht den bewusstlosen Söldner an den Schultern vollständig in den Raum und greift nach seinem Gewehr.
»Du bist also wegen den Nutten hier«, sagt er in einem Augenblick tiefer Erkenntnis. Ich frage mich, ob er vielleicht schizophren ist. Oder ob ich es bin. Irgendeiner von uns läuft jetzt ziemlich weit neben der bisherigen Realitätsspur. «Nimm die Frauen und verschwinde. Lauf zur Polizei, aber vorher musst du...«
Ich unterbreche ihn und packe ihn am Arm. Wir stehen voreinander wie zwei Tangotänzer, die auf den Einsatz der Musik warten. Unsere Taschenlampen sind auf den Boden gerichtet. Ein leichter Reflex dieses Lichts trifft von unten unsere Gesichter und lässt uns geisterhaft erscheinen.
»Das war doch nicht der Plan?«
Er nickt in die Dunkelheit.
»Ich weiß. Der Plan hat sich vor einer Minute grundlegend verändert. Verschwinde jetzt. Ob mit den Mädchen oder ohne.«
Was sagte er gerade? Was geht mit ihm vor? Warum hat er mich hierhergelockt? Ich starre ihn an und versuche zu verstehen, was hier abgeht. Das Hintergrundrauschen ergibt gerade überhaupt keine Muster. Es ist nur ein Schäumen in meinem Kopf.
Angst.
Verwirrung.
Aufruhr...
Ein Cocktail aus diesen drei Ingredienzien überflutet mein Inneres. Ich kann mir denken, was hier los ist. Wäre ich doch nur in meinem Zimmer geblieben. Hier läuft gerade alles schief. Ich spüre, dass der gesamte Ärger jetzt, in diesem einen Augenblick, beginnt.
1.08 Der Weltraum hinter der Tür
Der Zug rast durch die Tunnel. Auf der roten elektronischen Tafel wird die stolze Geschwindigkeit von 219 km/h angezeigt. Ich öffne meinen Rucksack und greife das alte Büchlein heraus. Ich schlage es wahllos auf und lese einige Zeilen.
W ER , WENN ICH SCHRIEE , HÖRTE MICH DENN AUS DER E NGEL
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DEN WIR NOCH GRADE ERTRAGEN ,
UND WIR BEWUNDERN ES SO , WEIL ES GELASSEN VERSCHMÄHT ,
UNS ZU ZERSTÖREN . E IN JEDER E NGEL IST SCHRECKLICH .
Es mag Menschen geben, die diese Worte verstehen. Es mag Menschen geben, die unentwegt solche Worte lesen. Menschen, die sie schreiben und zitieren. Doch mein Kopf brummt nur. In diesen Augenblicken fällt es mir schwer, mich auf die Buchstaben auf meinem Fahrschein zu konzentrieren.
Meine Gedanken kreisen unruhig um die letzten Stunden, um die letzten Tage. Eine Architektur aus Fragen und Rätseln baut sich vor mir auf. Weshalb sitze ich in diesem Augenblick nicht blass in irgendeiner Polizeistation und versuche mit brüchiger, kraftloser Stimme zu erklären, was sich in den letzten Stunden ereignet hat? Vor was bin ich geflohen? Wird der Schock sich erst später einstellen? Das muss es sein. Meine Gedanken sind zwar unruhig, mein Puls beginnt zu rasen, wenn ich an einzelne Momente der letzten Stunden denke — doch etwas in mir ist auf eine unerklärliche Weise euphorisch. Ich weiß nicht, was es ist. Ich versuche, meine Innenwelt zu analysieren und herauszufinden, welchen Streich mir da mein Unterbewusstsein spielt und mich damit zugleich über Wasser hält. Doch ich finde keine rationale Erklärung.
Nun, zum Teufel mit den Erklärungen. Ich bin froh, dass ich nicht am Rande eines Nervenzusammenbruchs stehe. Unauffällig blicke ich auf meine Hand. Sie zittert nicht mehr. Langsam geht es vorüber. Selbsterhaltungstrieb, Reflexe, Neugier...
Mein Sitznachbar mustert
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