In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
Klebeband. Das breite, braune, das man üblicherweise für Pakete verwendet. Besonders theatralisch mutete der »Mehrzweckeinsatzstock« an, der an seiner Seite baumelte. Von einem gewöhnlichen Schlagstock unterschied er sich durch seinen Quergriff. In Japan heißt diese Waffe Tonfa. Hatte Manzio den aus irgendeinem Secondhandladen im Glockenbachviertel? Vielleicht hatte er mal als Roadie für die Village People gejobbt. Oder noch schlimmer: für eine Coverband, die Village People imitierte. Hätte man nicht Stan Laurel und Oliver Hardy schicken können, um die Zwangsprostituierten zu befreien?
Ich stupste wieder besorgt seinen Oberarm an.
»Hey, Sandokan«, flüsterte ich skeptisch. »Ich dachte, dass wir niemandem begegnen werden.«
»Werden wir auch nicht«, erwiderte er leise, während er im Gehen mit der winzigen Stablampe auf einen kleinen Zettel in seiner Hand leuchtete. Ich wollte gar nicht wissen, was darauf stand. Es mochte Thailändisch sein oder einfach nur ein Gedicht von Leonard Cohen.
Ich denke oft darüber nach, wie schwierig es ist, in dieser Welt einen klaren Kopf zu behalten. Alles ist Hintergrundrauschen. Nur manchmal löst sich daraus das eine oder andere Muster und weist für einen Augenblick den Weg durch das Leben. Vermutlich nehmen nicht alle Menschen das Leben auf diese Weise wahr. Vielleicht bin ich der einzige. Es gibt sicherlich genügend beneidenswerte Individuen, die stets genau wissen, was sie tun, warum sie es tun, und wie sie es tun sollen. Ich wäre auch gerne so, frei von diesem diffusen Nebel in meinem Kopf, der mir unaufhörlich das Gefühl gibt, ein Jugendlicher zu sein, der gerade erst begonnen hat, sich in der Welt zu orientieren. Doch dank der ironischen Veranlagung des Weltenschöpfers, haben die willensstarken, stets was-und-wie-wissenden Exemplare dieselbe Fehlerquote in ihren Entscheidungen, wie jene Laborratten, die wie ich meistens nur instinktiv handeln. Oder glaubt denn jemand, dass Neurologen oder Psychotherapeuten eine niedrigere Scheidungsrate haben, als die anderen Sterblichen?
Und so tapse ich hinter Manzio her, dem Großfürst aller Düsterologen, durch die verwinkelten Bahnen seiner finsteren Großhirnrinde, ohne Ahnung, was ich hier tue, und unsicher, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich an die Polizei zu wenden. Zwei Drogendealer auf einer Exkursion in das eigene Schicksal. Warum wollen wir eigentlich diesen Mädchen helfen? Ein guter Gedanke, den weiterzuverfolgen sich lohnt, denn liegt hier nicht ein recht offensichtlicher Ankerplatz für allerlei Verlogenheiten und Scheinheiligkeiten? Würden wir ebenfalls wie Don Quixote und Sancho Pansa durch einen modrigen unterirdischen Gang marschieren, wenn es sich um eine Gruppe männlicher albanischer Emigranten handeln würde? Wie charmant doch die kleinen Lügen sind, die sich hinter dem Begriff Moral verbergen.
Manzio steht vor der eisernen Tür zum Heizungsraum. Mit dem Stethoskop horcht er an dem bläulichen Metall. Er schüttelt leicht den Kopf und kramt nach seinen Schlüsseln. Im Heizungsraum streichelt uns die Wärme. Da sind wieder die massiven grünen und weißen Lämpchen, eingebettet in metallische Schränke und Kontrollkästen. Ich würde lieber hierbleiben und mit den Knöpfen spielen. Einzelne Schalter drücken und sehen, was passiert. Einige Schweißperlen treten auf meine Stirn. Diesmal gehen wir nicht in die kleine Abstellkammer, aus der wir letzte Woche Herr Mahrs kleine Orgie beobachtet haben, sondern direkt zu jenem Raum, in dem sie stattgefunden hat. Manzio horcht mit dem Stethoskop an der Tür und wieder befindet er sie für unbedenklich. Wir betreten den Raum und bleiben stehen. Ich knie mich hin und berühre instinktiv die schmutzige Matratze, auf der das Mädchen gelegen hatte, während unser Vermieter sie vögelte. Manzio blickt mich an, als würde er in mir einen heimlichen Fetischisten enttarnen.
»Die Frauen sollten nebenan sein.«
Ich erinnere mich an unseren ersten Besuch hier, als er mir erklärte, dass hinter dieser Tür der Untergrund begänne.
Unser akribischer Plan sieht vor, dass wir die Mädchen rausholen und auf demselben Weg wieder zum Haus der Kraniche zurückkehren. Unten im Souterrain wartet dann Manzio mit ihnen, während ich in Erfahrung bringe, ob oben die Luft rein ist. Doch um drei Uhr morgens sollte das Haus still und schlafend sein. Dann würden wir sie rausbringen. Zu einer Polizeistation. Zu einer Menschenrechtsorganisation. Wir hatten weitere
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