Frage, ob ich nun ein Fake war oder nicht, stellte ich mir immer weniger. Sie blieb aber dezent im Hintergrund. Denn schließlich hatte ich vor meiner Begegnung mit Evelyn niemals über SM nachgedacht. Wäre ich echt, hätte ich sicherlich schon vor Jahren entsprechende Anlagen in mir entdecken müssen. Dann hätte ich bereits als Kind fasziniert den Sadomasochismus bei Karl May und in den DC-Comics erkennen müssen. Und gerade beim letzteren wurde mir erst jetzt bewusst, wie ausgeprägt die Erotik des Zwangs in ihrer unterschwelligen Weise dort in Wirklichkeit war. Ich hatte es aber nie gesehen.
Fragment: Der freie Wille
Bin ich frei, oder werde ich gelenkt von unerkannten Agitatoren, mit einem Zweck, der sich mir nicht offenbart und einem Ziel, das ich nicht kenne? Gibt es den großen Demiurg, der Billard spielt, während ich nur eine von vielen rollenden Kugeln bin?
Meine Geschichte ist eine Reise gen Freiheit. Doch um Freiheit zu erlangen, muss ich die Fesseln durchschauen. Ich muss in die Wunden starren und erkennen, dass das Gesehene ich bin und niemand sonst.
Die Schamanen sind tot. Wir haben sie gegen gierige Priester eingetauscht, sie vertrieben und ihre Hütten dem Boden gleichgemacht, um statt dessen Kaufhäuser zu bauen. Sie waren die letzten, die bereit waren, unseren Schmerz auf sich zu nehmen und ihn damit zu lindern.
Alle anderen, die sich dafür anbieten, sind Lügner und Schacherer, mit dem einzigen Ziel, uns ihre nutzlosen Produkte anzudrehen.
Ich habe keine Antworten, die wie Kochrezepte anmuten. Keine Erfolgstherapien. Du willst Esoterik, schreib an
[email protected] . Er wird genauso wenig antworten, wie Gott.
Es gibt Elektronen und Photonen, die mehr Willensfreiheit haben, als die meisten Menschen. Sie haben davon zwar nicht viel, doch das Quentchen Freiheit, das ein subatomares Teilchen besitzt, ist dafür unverfälscht und unmittelbar. Wie oft sehnt sich der Homo oeconomicus cretinus nach nur einem Augenblick von dieser Reinheit. Die immensen Möglichkeiten, die uns umgeben, sind wie ein mehrfaches Echo unserer Sehnsüchte, die uns auf Schritt und Tritt begleiten. Wir sind umwoben von allem, was hätte sein können, was hätte sein sollen, was wäre wenn...
Bar aller Beschönigung: wir tun, was man uns sagt. Wir essen dort, wo es am grellsten ist und hören das, was man uns vorschreibt. Wir besitzen nicht einmal die Würde eines schwarzen oder weißen Steinchens auf einem Go-Spielbrett oder die Grazie eine Schachfigur. Wir sind wie abgestumpfte Kühe, die mit gemahlenen Leichenresten gefüttert werden, während sie ermattet auf den vertrauten Trog starren. Um uns herum wird grässlicher Lärm verbreitet, der meistens nichts zu tun hat, mit den stummen Bildern von M-TV, die aus den aufgehängten Monitoren oszillieren, als wollte eine höhere Macht herausfinden, wer von uns den ersten epileptischen Anfall bekommt. Wir überreichen brav unser Geld den Bankberatern, nur weil irgendein Krawattenlügner mit einem Filzstift einige Prozentzeichen und Ausrufezeichen auf ein Flip-Chart-Blatt schrieb und es im Eingang unserer Bankfiliale aufhängte. Und ist das teuer ersparte und für die Ausbildung der Tochter bestimmte Geld verschwunden, fordern wir mit derselben Bravheit die Benennung des Schuldigen. Und so hassen wir den Lügner mit der Krawatte, der selbst ebenso nur ein Rädchen in der Maschine der Bestimmung ist. Wir hassen ihn, weil wir nicht den Mut haben, uns selbst zu erkennen. Wir hassen ihn, weil wir nicht den Mut haben zu sehen, dass er nur ein Spiegelbild dessen ist, was wir selbst sind. Nur ein weiterer Homo oeconomicus cretinus auf einem Planeten, der von genau dieser Spezies dominiert wird.
Wir sind Politiker, wir sind Steuerberater, wir sind Banker, wir sind Zuhälter und Journalisten, wir sind Supermodels und PR-Berater, wir sind Chefredakteure und Consultants, wir sind Huren und Kunsthändler, wir sind Junkies und Rechtsanwälte, TV-Produzenten und Lobbyisten, wir sind Werbefachleute und Raser auf Autobahnen, Bonusmeilen-Sammler und Herzerl-Kleber, wir sind Fans und Stalker, Schundblattleser, Pornosüchtige und Säufer. Wir schlagen unsere Kinder und bezahlen die Abtreibungen unserer Affären. Wir geben Vermögen für überteuerte Kosmetik aus und voten den nächsten Superstar mit unserem Handy. Wir brüsten uns mit unserer psychotischen Religiosität und beneiden wütend jeden, dessen Finger mehr nach Geld stinken, als die unseren.
Zu keinem bestimmten Zeitpunkt sind