In den Spiegeln - Teil 3 - Aion
interessiert.«
»Aschewerdung?« Ich blickte auf. »Ich habe Rufus Mahr das Wort sagen hören. Und im Internet fand ich einen Text, in dem es hieß, es sei ein Ritus...«
»Es ist kein Ritus, sondern eine Methode. So wie die Handlungen eines Schamanen mehr Methoden als Riten sind. Aschewerdung ist das bewusste begehen des Todes, ohne die eigene Gedanklichkeit aufzugeben. Du erfährst sie gerade am eigenen Leibe, wenn auch ohne Leib. Hast du jemals das Tibetische Totenbuch gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf und ahnte, dass ich das in der Gegenwart dieses Mannes noch oft tun würde.
»Körper — Geist — Seele. Das kennst du sicher«, fuhr er fort. »Der menschliche Geist ist wie ein Anteil am Gesamten. Er ist wie ein Lesezeichen in einem Buch. Wann immer du das Buch aufschlägst, liest du diese eine Seite und sagst: ja, das bin ich. Die restlichen Seiten empfindest du aber als unzugänglich. Nicht nur, dass wir uns schwertun, die anderen Seiten des Buchs zu lesen, wir ignorieren obendrein, dass die restlichen Seiten genauso viel mit unserer eigenen Geschichte zu tun haben, wie unsere eigene Seite. Verstehst du was ich meine?«
»Wir sind geistig alle verbunden und haben Anteil an derselben Sache, merken es aber nicht«, sagte ich brav, um ihm zu zeigen, dass ich nicht vollkommen schwer von Begriff war.
»Ja. Mit der Seele ist das aber ein wenig anders. Die Seele ist wie ein Partikel im Schweif eines Kometen. Einsam und doch in einer riesigen Gruppe. Die Seele existiert und doch existiert sie nicht. Sie ist wie das Elektron in der Naturwissenschaft. Ganze Industriezweige basieren auf der Nutzung des Elektrons, aber es hat noch nie jemand eins wirklich gesehen. Die Seele wurde vor langer Zeit abgesondert von etwas Größerem und streift seitdem zyklisch zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Auch die kleinste Seele im Universum ist ein Teil der Frage nach dem Warum .«
Ich sah mich um. Der Hügel, auf dessen Gipfel das von Säulen gesäumte Atrium stand, war schon recht weit entfernt. Thanatopolis, die Dunkle Stadt, befand sich dahinter und wurde von der einsamen Anhöhe verdeckt. Die Seelen drifteten weiterhin entschieden über dieses seltsame Himmelsgewölbe auf ein nun unsichtbares Ziel zu.
Vor uns war nur Einöde. Gerade noch erkennbar zeichneten sich am Horizont wilde Bergrücken ab.
»Im Tod verhält es sich so, dass diese virtuelle Verbindung aus Körper, Geist und Seele, die wir Kombinat nennen, aufgelöst wird. Zuerst löst sich der Körper, indem seine Organfunktionen versagen und das Gehirn die elektrische Aktivität einstellt. Die Seele beginnt sofort mit dem Drift ins Jenseits, ist aber noch immer mit dem Geist verbunden, den man sich nicht als eine Entität vorstellen darf, sondern eher als einen Zustand, als eine Verbindung zu einem kollektiven Bewusstsein. Deshalb können sich einige Menschen an Nahtoderfahrungen erinnern. Was sie jedoch ›sehen‹, ist noch immer das Diesseits. Häufig beginnt sich spätestens hier der Geist von der Seele zu lösen. Bei einigen Seelen ist die Bindung an den Geist jedoch stärker. Du weißt aber nun aus eigener Erfahrung, dass all diese Verben und Substantive vollkommen unzureichend sind, um es zu beschreiben. Dein Geist hat es gefühlt.«
»Und dann kommt der Lärm...«, wandte ich leise ein.
» Klänge, Lichter und Strahlen «, rezitierte Adam Kadmon. » Sie jagen einem Schauer ein, ängstigen und erschrecken und verursachen große Müdigkeit. Die Worte des Bardo Thödol , des Tibetischen Totenbuchs. Die Seele passiert auf ihrem Weg einen Zustand, einen Vortex , der sich dem Geist als ein entsetzliches Getöse offenbart. Das Gefühl von Zermalmtwerden, die Wahrnehmung von Lärm, Blitzen und Erschütterung. Spätestens an dieser Stelle befreit sich die Seele von dem seltsamen Konstrukt, genannt Geist, den wir aber lieber Gedanklichkeit nennen. Diese Verdichtung an Informationen, die so intensiv ist, dass sie ein Ego besitzt und ein Gefühl von Zeit. Das Ironische ist natürlich, dass alles um den Geist von ihm selbst produziert und wiederum zensiert ist. Auch der Vortex ist in seiner empfundenen Ausprägung nur das, was der Geist sehen und wahrnehmen will.«
»Und der Geist kommt am Vortex niemals vorbei?«
»Wenn es nur so wäre. Diese Sachen passieren doch ständig«, erklärte er und wirkte nun wie ein U-Bahn-Kontrolleur, der über Schwarzfahrer spricht.
»Das verstehe ich nicht«, gab ich zu.
»Schon mal von Leuten gehört, die mit
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