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In den W?ldern tiefer Nacht

In den W?ldern tiefer Nacht

Titel: In den W?ldern tiefer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelia Atwater-Rhodes
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uns selbst gegenüber oft genug ebenso grausam. Wir sind nur direkter. Wir müssen niemandem die Schuld für unsere Grausamkeit geben. Wenn ich Aubrey umbringe, dann deshalb, weil ich ihn hasse, und nicht, weil er schlecht oder ein Mörder ist oder aus irgendeinem anderen moralischen Grund. Ich werde es tun, weil ich es will, oder ich werde es nicht tun, weil ich es nicht will.
      Oder ich werde es nicht tun, weil er mich zuerst tötet, womit ich am ehesten rechne.
     
 
      Kurz nach meiner Verwandlung brachte ich mich eine Zeitlang in die Appalachia- Berge. Ich hatte zwar schon von ihnen gehört, sie aber noch nie gesehen. Nachts in den Bergen zu sein war unglaublich. Ich war eine junge Frau allein in der Wildnis. Als Mensch wäre mir dies nicht möglich gewesen. Ich lag in einem Baum, lauschte den Geräuschen des Waldes und dachte an überhaupt nichts.
      »Ather sucht dich«, sagte jemand neben mir, und ich sprang auf den Boden. Meine Beute lag direkt neben dem Baum. Ich hatte sie mit hierhergenommen, bevor ich getrunken hatte, um Störungen zu vermeiden.
      Ich ging auf die Stimme zu. Es war Aubrey.
      »Sag Ather, daß ich sie nicht sehen will«, sagte ich zu ihm.
      Aubrey hatte etwas anderes an als bei unserer letzten Begegnung und konnte nicht länger mit einem Menschen verwechselt werden. Auf seine linke Hand war eine grüne Viper gemalt, und er trug eine dünne Goldkette um den Hals, an der ein goldenes Kreuz hing. Das Kreuz stand auf dem Kopf.
      Er hielt sein Messer in der linken Hand. Die silberne Klinge war sauber, scharf und schrecklich tödlich, genau wie seine perlweißen Schlangenzähne, die im Moment nicht zu sehen waren.
      »Sag es ihr selbst – ich bin nicht dein Botenjunge«, zischte er.
      »Nein, du nimmst nur Befehle von Ather entgegen wie ein braver kleiner Schoßhund.«
      »Niemand gibt mir Befehle, mein Kind.«
      »Außer Ather«, entgegnete ich. »Sie schnippt mit den Fingern, und du springst. Oder suchst oder tötest.«
      »Nicht immer... ich mochte deinen Bruder bloß nicht«, antwortete Aubrey lachend. Aubrey lächelt nur, wenn er in zerstörerischer Stimmung ist. Ich wollte ihm jeden Zahn aus diesem Lächeln schlagen und ihn sterbend im Dreck liegenlassen.
      »Du lachst?« fragte ich. »Du hast meinen Bruder ermordet und lachst darüber?«
      Er lachte wieder. »Wer war denn der Kadaver auf dem Boden hinter dir, Risika?« spottete er. »Hast du je danach gefragt? Wer hat ihn geliebt? Wessen Bruder war er? Du bist ohne jeden Gedanken an ihn über seine Leiche gestiegen. Über die Leiche – ohne jeden Respekt, Risika. Du würdest seinen Körper ohne ein Gebet hier liegenlassen, als Fressen für die Geier. Wer von uns beiden ist hier das Monster, Risika?«
      Seine Worte trafen mich, und ich versuchte mich zu rechtfertigen. »Er...«
      »Er hat es verdient?« beendete Aubrey meinen Satz. »Bist du jetzt Gott, Risika, und entscheidest, wer lebt und wer stirbt? Die Welt hat Klauen und Zähne; du bist entweder die Jägerin oder die Beute. Niemand verdient es, zu sterben oder zu leben. Die Schwachen sterben, die Starken überleben. Das ist alles. Dein Bruder gehörte zu den Schwachen. Es ist seine eigene Schuld, daß er tot ist.«
      Ich schlug ihn. Ich war eine junge Dame, die nie gelernt hatte zu kämpfen, aber in diesem Augenblick bestand ich nur noch aus Wut. Ich schlug ihn so hart, daß sein Kopf auf die Seite flog und er stolperte. Er richtete sich wieder auf, und jeder Rest von Humor war von seinem Gesicht verschwunden.
      »Vorsicht, Risika.« Seine Stimme war eisig, sie würde auch das tapferste Herz frösteln lassen, aber ich war zu wütend, um es zu bemerken.
      »Rede nicht so von meinem Bruder.« Meine Stimme zitterte vor Zorn, und meine Hände verkrampften sich. »Nie.«
      »Oder was?« fragte er gelassen. Seine Stimme war ruhiger, noch kälter geworden, und er stand so unbeweglich wie ein Stein. Ich spürte seine Wut wie eine Decke um mich herum. In diesem Moment wußte ich, daß niemand, der Aubrey je bedroht hatte, noch am Leben war.
      Es gab für alles ein erstes Mal.
      »Oder ich werde diese Klinge in dein Herz stoßen, und du wirst nie wieder reden«, antwortete ich.
      Er warf das Messer so auf den Boden, daß sich die Klinge einen Zentimeter vor meinen Füßen in den Boden bohrte.
      »Versuch es.«
      Ich kniete mich langsam und wachsam hin, um das Messer aufzuheben, ohne die Augen von Aubrey abzuwenden, der mich mit eisiger Ruhe

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