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In den W?ldern tiefer Nacht

In den W?ldern tiefer Nacht

Titel: In den W?ldern tiefer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelia Atwater-Rhodes
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vor Leben und Energie. Es benetzte meinen ausgedörrten Mund und kühlte mein Fieber, und ich trank es wie heilende Ambrosia.
      Die Gedanken schössen wie Blitze durch meinen Geist, zu schnell, als daß ich sofort begriff, daß es nicht meine eigenen waren. Nach einem Augenblick, als ich sie wieder unter Kontrolle hatte, wurde mir klar, daß sie von meinem Opfer stammten. Ich sah ein lachendes Kind vor mir. Es rief seine Mutter, um ihr eine Blume zu zeigen. Ich sah kochendes Essen auf dem Herd. Ich sah eine Hochzeit. Ich sah eine Messe am Morgen. Meine Gedanken konzentrierten sich auf dieses letzte Bild.
      Ich konnte den Geist dieser Frau deutlich lesen, und sie war jeder Form der Hexerei unschuldig. Diese Erkenntnis bewirkte mehr als alles andere eine völlige Veränderung in mir. Man hatte diese Frau zum Sterben hierhergeschickt, und dabei hatte sie gar kein Verbrechen begangen. Warum hatten ihre eigenen Leute sie angeklagt? Wie viele der anderen Angeklagten waren auch unschuldig?
      Ich versuchte, mich rasch zurückzuziehen, aber ich bewegte mich, als wäre ich unter Wasser. Es war so verlockend, nur einen Moment länger zu trinken und auch den Moment danach und noch ein kleines bißchen länger...
      »Und führe uns nicht in Versuchung.« Ich hatte diese Worte so oft ausgesprochen, ohne daran zu glauben. Wenn wahrer Glaube mein Gebet unterstützt hätte, wären die Worte dann jemals belohnt worden? Oder wäre ich dann trotzdem jetzt in dieser Zelle und würde das Blut einer unschuldigen Frau trinken?
      Die ganze Zeit über wußte ich, daß ich nicht töten wollte, und trotzdem konnte ich mich nicht losreißen. Selbst als ihr Herz aufhörte zu schlagen und ich spürte, wie der Fluß ihres Blutes langsamer wurde, selbst als sie starb, war es unglaublich schwer aufzuhören. Mein Sehvermögen wurde besser, als ihre Augen brachen, und ich betrachtete die unschuldige Frau, die jetzt kreidebleich und blutleer war.
      Neben mir leckte sich Ather die Lippen und ließ ihr Opfer auf den fleckigen, schmutzigen Zellenboden fallen. Sie sah so zufrieden aus wie ein Kätzchen vor einer Milchschüssel. Ich war entsetzt, nicht nur wegen der Morde. Ich war unfähig gewesen, mich zurückzuziehen, als diese unschuldige Frau starb, obwohl ich ihr Leben hätte retten können.
      »Töten ist einfach«, sagte Ather zu mir. »Und je öfter man es macht, desto einfacher wird es.«
      »Nein«, antwortete ich. Wie oft hatte ich dieses Wort an diesem Tag schon gesagt? Welche Bedeutung konnte es überhaupt noch haben? Ich war mir längst nicht so sicher, wie ich es gerne gewesen wäre.
      »Du wirst es schon noch lernen«, sagte sie, nahm die Frau aus meinen Armen und ließ sie zu der anderen Unschuldigen auf den Boden fallen. »Du bist jetzt ein Raubtier, und Überleben ist das einzige, was in der Welt der Raubtiere zählt.«
      »Ich werde nicht töten.«
      »Doch.« Sie ging hinter mir. Ich drehte mich um, damit ich sie sehen konnte. Sie klang so sicher, und ich fühlte mich so unsicher. »Du stehst jetzt über den Menschen, Risika, sogar über den meisten unserer Artgenossen. Willst du dich etwa von ihnen beherrschen lassen, nur weil die Menschen es dir so beigebracht haben?«
      Ich gab ihr keine Antwort, denn dann hätte ich ihr zustimmen müssen.
      »Das Gesetz des Dschungels heißt: >Sei stark oder werde beherrschte Das Gesetz unserer Welt heißt: ›Sei stark oder stirb.‹«
      »Das hier ist nicht meine Welt!« schrie ich. Ich wollte nicht in diese grimmige Welt der Jäger gehören, die sich an dem Blut von Unschuldigen labten.
      »Doch, das ist sie«, beharrte Ather.
      »Ich werde das nicht zulassen.«
      »Du hast keine andere Wahl, mein Kind.«
      »Du bist schlecht. Ich werde nicht töten, nur weil du es mir sagst...«
      »Dann töte, weil es dein Recht ist.« Die Worte kamen hart und scharf aus ihrem Mund, sie wurde langsam ungeduldig mit mir und meiner beharrlichen Weigerung.
      »Du bist jetzt kein Mensch mehr, Risika. Die Menschen sind deine Beute. Du hast doch auch nie Mitleid mit den Hühnern gehabt, die auf deinem Teller lagen. Mit den Tieren, die du aufgezogen hast, damit sie getötet werden konnten. Mit den Kreaturen, die du in Käfige gesteckt hast, damit sie dir gehörten. Warum solltest du plötzlich andere Gefühle für deine Nahrung haben?«
      So, wie sie es darstellte, konnte ich ihr nicht widersprechen. »Aber man kann doch nicht einfach Menschen töten. Das ist...«
     

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