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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Hund?«
    »Ja, er heißt Scott.«
    »Ein schöner Hund. Du warst noch nicht oft hier, nicht wahr?«
    »Du meinst … du meinst, in diesem Park?«
    »Ja, genau.«
    »Das ist jetzt das zweite Mal.«
    »Ich freue mich, dass du auch hier bist. In der Schule haben wir nie Zeit, uns zu unterhalten. Dann sehen wir uns also bald wieder?«
    Sie gab mir wieder einen Kuss – diesmal näher an meinem Mund, was mich sehr rot werden ließ – und ging davon.
    »Scott, ich muss dich etwas Wichtiges fragen.«
    Frag nur, Chef.
    »Wie schaffe ich es die nächsten Nächte, wieder hierher zurückzukommen?«
    Scott blieb stehen und sah mich an, aber ich weiß nicht, ob er meine Frage beantwortet hat, weil ich auf einmal in meinem Bett lag, wo meine Mutter mich rüttelte und mir sagte, ich müsse jetzt aufstehen und mich für die Schule fertig machen.

3
    Am folgenden Donnerstag kam Roberto mindestens eine halbe Stunde zu früh. Er merkte es erst, als er schon vor der Haustür stand, und beschloss, nicht vorm Haus oder, noch schlimmer, im Vorzimmer des Doktors zu warten, sondern lieber einen Spaziergang zu machen. Als er über die Markthalle der Piazza Alessandria schlenderte, fiel ihm ein alter Brunnen auf, aus dem ein schwacher, aber regelmäßiger Wasserstrahl plätscherte.
    An und für sich keine außergewöhnliche Entdeckung, aber in jenem Moment erschien ihm das wie eine Offenbarung. Dass er diesen Brunnen nach so langer Zeit bemerkt hatte, nachdem er monatelang achtlos daran vorbeigegangen war, bereitete ihm unverhältnismäßig große Freude. Er hielt seine Hände unters Wasser, beugte sich nach vorn, um einen Schluck zu trinken, und ging schließlich weiter. Die Gegend war voller Geschäfte, Handwerksbetriebe, Werkstätten, Bars und Restaurants. Er blieb vor einer Zoohandlung stehen und betrachtete Papageien, ein Aquarium, Siamkätzchen.
    Als er sich wieder auf den Weg zur Praxis machte, nahm er sich vor, in den folgenden Wochen die Umgebung genauer zu erforschen. Er verbrachte noch etwa zehn Minuten im Wartezimmer, dann verabschiedete der Arzt jemanden, und eine Tür ging auf und zu. Der Ausgang der Praxis war nicht dieselbe Tür wie der Eingang. Wenn es sich einrichten lässt, funktionieren die Praxen von Psychologen so, dass man durch die eine Tür hineinkommt und durch die andere wieder hinausgeht, so dass die Patienten sich nicht begegnen. Sich im Wartezimmer eines Psychologen zu begegnen ist nicht dasselbe, wie wenn man sich etwa beim Orthopäden begegnet. Keiner findet es peinlich, dass ihm ein Knöchel oder ein Knie Probleme bereitet. Keiner findet etwas dabei, einen Bekannten beim Zahnarzt oder Ohrenarzt zu treffen. Im Gegenteil, man plaudert ein wenig, und die Zeit vergeht schneller.
    Aber so gut wie alle finden es peinlich zuzugeben, dass der Kopf Probleme macht. Wenn der Kopf Probleme macht, könnte das bedeuten, dass man verrückt ist. Und aus diesem Grund hat keiner Lust, irgendjemandem beim Psychiater zu begegnen. Weder vor noch nach der Behandlung, oder besser, der Sitzung.
    Hallo, wie geht’s? Ich bin manisch-depressiv mit Selbstmordanwandlungen, und Sie? Entschuldigung, der Herr, aber warum starren Sie mich so an? Ach so, ich bin Ihr Finanzberater, und Sie finden es gar nicht lustig, dass Ihre Geschäfte von einem manisch-depressiven Selbstmordkandidaten verwaltet werden? Und so weiter.
    Der Doktor öffnete die Tür zum Vorzimmer, trat ein und hielt verwundert inne, als er Roberto sah.
    »Sie sind schon da?«
    »Ja, ich bin ein wenig früh dran.«
    »Das passiert heute zum ersten Mal.«
    Der Ton war neutral, und es war nicht herauszuhören, ob der Doktor ihn das fragte oder ob er es lediglich feststellte.
    »Ich sehe, dass Sie guter Dinge sind. Das freut mich.«
    Woran merkt er das? Ich sitze hier, habe kaum ein Wort gesagt und nicht einmal gelächelt.
    »Kommen Sie herein. Ich bin in zwei Minuten bei Ihnen.«
    Die zwei Minuten vergingen sehr langsam. An der Wand, der Roberto während der Sitzungen den Rücken zuwandte, hing ein gerahmtes Poster: eine Schwarzweißaufnahme eines lachenden Louis Armstrong, in der einen Hand die Trompete, den anderen Arm parallel zum Körper ausgestreckt. Darunter stand: If you have to ask what Jazz is, you’ll never know . Roberto fragte sich, ob das Poster neu war oder schon da hing, seit er in die Praxis kam.
    »Gibt es einen Grund dafür, dass Sie heute zu früh gekommen sind?«
    »Ich glaube nicht. Oder vielleicht gibt es einen Grund, aber ich kenne ihn nicht. Ich könnte

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