In der Gewalt des Jadedrachen
zu.
***
Chen Wing-Lun sah hoch, als jemand den Raum betrat. Er hatte Anordnung gegeben, nicht gestört zu werden, aber diesem Mann lächelte er trotzdem entgegen, als er mit raschen Schritten auf ihn zukam.
Es war Patrick, der einzige Enkelsohn seines Bruders, der zwei Jahre in Kalifornien studierte, wo auch die Familie von Chens ältester Schwester lebte. Vor Kurzem war er wieder zurückgekommen, um einige Aufgaben in dem Konzern, den sein Onkel und dessen Söhne aufgebaut hatten, zu übernehmen.
Chen hatte viel für seine Familie, seine Söhne, seine kleinen Enkel und Neffen übrig. Und dieser hier war ein vielversprechender junger Mann. Und hübsch. Er war fünfundzwanzig, hatte kurz und frech geschnittenes Haar, das ihm ein wenig in die Stirn fiel. Seinem Gesicht sah man an, dass er gerne lächelte und lachte, aber im Moment war es düster, als er ihm ein Schnurlostelefon hinhielt.
„Verzeih, dass ich dich störe, Onkel Chen. Aber es scheint wichtig zu sein.“
Chens Miene verdunkelte sich ebenfalls. „Nein. Nicht wieder meine Schwester. Was will sie?“ Niemand hätte Chen einen Feigling nennen können, aber eben diese älteste, in Kalifornien lebende Schwester nervte ihn seit Tagen wegen ihres Enkelsohns. Der Himmel allein wusste, wie sie dahintergekommen war, dass er in diese Sache verwickelt war. Chen vermutetet jedoch – und wahrscheinlich nicht zu Unrecht – dass sie überall ihre Spione hatte. Vielleicht war sogar sein alter Diener Han einer von ihnen.
Sein Großneffe machte den Eindruck, als wollte er hinausplatzen, dann wurde er gleich wieder ernst.
„Nein, nicht Tante Peggy. Die ‚Hand des Drachens’ möchte dich sprechen.“
Fast ebenso schlimm. Chen Wing-Lun sah einige Herzschläge lang auf das Telefon wie auf eine faule Frucht, vor der ihm ekelte, bevor er aufseufzend den Pinsel zur Seite legte und danach griff. Auf dem Reispapier vor ihm waren chinesische Schriftzeichen. Eine alte Tradition, die er gerne pflegte, wenn er Entspannung suchte. Das kunstvolle Malen der Zeichen und die Kontemplation über ihre Bedeutung verlangte vollkommene Konzentration, und hier konnte er sich am besten von den alltäglichen Ärgernissen des Geschäfts befreien.
Als der junge Mann den Raum wieder verlassen wollte, winkte er ihm, zu bleiben und mitzuhören. Er legte das Telefon vor sich auf den Tisch und stellte den Lautsprecher an.
„Hier Chen.“
„Vielen Dank, dass Sie das Gespräch entgegennehmen, Chen Wing-Lun.“ Eine raue Stimme war am anderen Ende der Leitung. Der Mann sprach nicht Kantonesisch wie in Hongkong üblich, sondern Mandarin. Eine Sprache, die seit der Übergabe Honkongs von gewissen Alteingesessenen als Sprache der Eindringlinge angesehen wurde. Zudem war es eine Stimme, die nicht nur Chen, sondern auch andere in Hongkong – wenn sie sie nicht gerade fürchteten – dann doch verabscheuen gelernt hatten. Sie gehörte einem Mann, der sich die „Hand des Drachen“ nannte, und der tatsächlich die rechte Hand des Jadedrachen war. Jenes geheimnisvollen Fremden, der seit einiger Zeit eine sehr unbequeme Rolle in Hongkongs Unterwelt spielte. Er verfügte nicht nur über ein großes Vermögen und damit Einfluss, sondern – was noch unangenehmer war – über Informationen. Und zwar jene Art von Wissen, das es ihm erlaubte, einige Triadenführer Hongkongs auf die eine oder andere Art zu erpressen.
Besonders die ehemaligen. Jene, die schon vor Jahren erfolgreich begonnen hatten, ihre Geschäfte zu legalisieren und nun in der Öffentlichkeit als ehrbare Kaufleute dastanden. Hongkong war eine schnelllebige Stadt, da vergaß man leichter als in schwerfälligen Ländern. Und die nicht vergaßen, waren klug genug, sich wenigstens den Anschein zu geben.
Aber dann war eines Tages der Jadedrache aufgetaucht. Der Kopf eines Syndikats, das zunehmend Einfluss in China gewonnen hatte. Anfangs hatten sie das Syndikat für eine der kleineren Banden gehalten, wie sie immer wieder entstanden, um dann entweder ausgelöscht zu werden oder sich mit den anderen, größeren und bereits länger existierenden zu verbinden. Der Jadedrache hatte aber mehr getan. Er war gezielt und aggressiv vorgegangen und hatte viele, die ihm im Weg standen, ausgeschaltet.
Inzwischen wussten sie, dass es sich bei seiner Gruppe um eine verbrecherische Organisation ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter handelte, die Zugang zu allen Ländern und allen erdenklichen Informationen und Akten gehabt hatten. Sie konnten ehemaligen
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