In der Mitte des Lebens
spricht. Als ich 1999 zwei Tage nach meinem 41. Geburtstag zur Landesbischöfin einer Kirche mit mehr als drei
Millionen Mitgliedern gewählt wurde, habe ich damit gehadert und gedacht: Du bist zu jung, wie soll dasgehen? Ich hatte mich auf die
Wahl eingelassen in dem Eindruck, den viele mir vermittelt haben: Es ist gut zu kandidieren, aber gewählt werde ich sicher nicht. Damals hat mir jener
Satz Gottes an Jeremia gut getan. Er hat mir eine gewisse Leichtigkeit gegeben – in dem Sinn: Also gut, Gott, wenn du das so willst, dann musst du auch
mitverantworten, was kommt. Irgendwie fand ich, Gott zeige auch Humor, wenn ausgerechnet ich Bischöfin werde. Mit meinem Bild eines real existierenden
Bischofs jedenfalls konnte ich mich selbst nicht identifizieren.
Aber es gibt offenbar auch eine Zeit, in der wir meinen: »Ich bin zu alt«, das geht nicht mehr, ist nicht zu schaffen, die Kräfte lassen nach, ich
fange nicht mehr neu an, ich lasse mich nicht mehr auf einen anderen Menschen ein. Zu spät für Veränderungen! Oder wir wollen schlicht unsere Ruhe und
unseren Frieden finden, keine Aufbrüche mehr wagen. Eine Art Ermattung setzt dann ein, wir glauben, nichts mehr verändern zu können. Alles ist schon
passiert und gewesen, es sind keine Überraschungen in Sicht. Das ist ein erschöpftes Sich-Abfinden mit der Realität. Ich lese es in der Antwort einer
Freundin, die ich kürzlich fragte, ob sie Lust habe, zu der wunderbaren Kunstausstellung »Marc, Macke und Delaunay« nach Hannover zu kommen: »Ich würde
ja eigentlich richtig gern kommen (!), aber mir läuft die Zeit davon! Ich bin im Moment in einem total Müde- und Überfordert-Zustand! Ich schlafe sehr
schlecht, da mir noch laufend Dinge durch den Kopf gehen, die ich dringend erledigen muss und keinesfalls aufschieben kann. … Ich glaube ich werde
deutlich älter!!«
Ihre Worte haben mich beunruhigt, denn eigentlich ist sie eher ein ruhiger Typ, der die Herausforderungen gelassen und sachlich angeht. In der Mitte
des Lebens gibt es offenbar auch dieses plötzliche Erschrecken: Ich kann nicht mehr, das übersteigt meine Kräfte! Eine solche körperliche, aber auch
geistige Erschöpfung nehme ich bei vielen in meinem Alter wahr. Dann ist die Frage: Gibt es Orte, an denen ich neue Kräfte finden kann? Wo sind meine
Kraftquellen?
Die Antwort darauf wird sicher unterschiedlich aussehen. Auszeiten, Oasentage, Stille und Meditation sind gute Möglichkeiten, Abstand
zu gewinnen von einem Alltag, der überanstrengt, und Ruhe zu finden. In meiner Landeskirche gibt es 15 Frauenklöster und Damenstifte und drei
Männerklöster, in denen solche Zeiten angeboten werden, auf sehr verschiedene Weise. Für viele ist die Entdeckung der Spiritualität eine Entdeckung von
Kraftquellen. Oft sind es ja alte, sehr alte Rituale, die uns im Alltag begleiten können. 23 Die einen nehmen
die Herrnhuter Losung mit in den Tag. Andere finden eine tägliche Zeit für das Gebet oder auch für eine Meditation. Wieder andere suchen eine Kirche auf,
zünden eine Kerze an oder gehen am Sonntag zum gemeinsamen Gottesdienst.
Die Sehnsucht nach Spiritualität scheint dabei in jüngster Zeit besonders bei Frauen mittleren Alters ausgeprägt zu sein. Das wird von manchen sehr
kritisch gesehen – Ingke Brodersen und Renée Zucker formulieren recht salopp: »Neben angeblichen Einparkmängeln oder der beliebten Menstruationserklärung
– wenn´s mal nicht so klappt mit dem Nachbarn – gehört Spiritualität zur »Typisch Frau«-Geringschätzung.« 24 Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Auch für mich persönlich ist Spiritualität, die Stille, der Rückzug eine große Kraftquelle. Einen biblischen Text
meditieren, einfach einmal allein sein, ein Gedicht lesen: Dabei finde ich zu mir. Wer einen dichten Arbeitsalltag hat, braucht solche Zeiten. Das
Burn-out-Syndrom befällt ja gerade Menschen, die keinen Rhythmus mehr finden zwischen Schaffen und Ruhen. Wer nicht regenerieren kann, wird eines Tages
auch keine Kraft mehr haben, zu leisten. Sehr schöne Anregungen dazu gibt ein gerade erschienenes kleines Buch mit dem Titel »Stay wild statt
Burnout. Leben im Gleichgewicht«. 25 Es reflektiert selbstkritisch den hohen Stellenwert der Erwerbsarbeit in
unserer Gesellschaft, an dem auch theologische Überlegungen und christliches Arbeitsethos ihren Anteil haben. In kleinen Schritten gibt das Buch
Ratschläge zum Tun und zum Lassen. Und es
Weitere Kostenlose Bücher