In der Mitte des Lebens
preußische Staatsangehörigkeit wird durch »staatenlos« ersetzt. Sie wird, wie alle Juden zur Zeit des Nationalsozialismus, zu Freiwild, der Verfolgung
durch einen Staat ausgesetzt, in dem das Unrecht verwaltet wird. Der Eintrag vom 15.10.41, »unbekannt nach Riga abgeschoben«, wird 1945 lapidar verändert
in »KZ-Lager«. Danach schlicht die nächsten Adressen von Hannover über Göttingen bis Bremerhaven.
Ein Leben als Datei. Zahlen, die nur ahnen lassen, für welche Demütigungen, Schrecken und Qualen sie stehen. Hilde Schneiders Leben ist in dem Buch
»Zwischen Riga und Locarno« aufgeschrieben, und es hat mich besonders berührt, dass sie auf ihren schweren Wegen immer eine Bibel begleitet hat. Diese
Bibel hat ihr viel bedeutet. Um diese Bibel hat sie wahrhaft mit Todesmut gekämpft – vor dem Abtransport aus dem AEG-Arbeitskommando in Riga bittet sie
einen brutalen SS-Mann, ihre Bibel mitnehmen zu dürfen. Der Oberscharführer erlaubt es erstaunlicherweise: ein kurzer Moment der Menschlichkeit mitten in
Gewalt und Grauen. Was Hilde Schneider aus den Lagern schildert, in die sie geschickt wurde, erschüttert mich. Wir wissen, dass die KZs Orte des Grauens
waren. Wenn ein Mensch dieses Grauen dann persönlich schildert, wird das Abstrakte zum Konkreten, es berührt unser Herz, wir spüren, was wir wissen. Viele
haben Hilde Schneider im Stich gelassen, auch unsere Kirche hat sie nicht geschützt, ihre Geschichte wollte nach 1945 niemand hören, wie so oft die
Geschichten der Opfer verdrängt werden.
Es ist das Privileg der nachgeborenen Generationen, dass sie eine größere innere Freiheit haben, Schuld zu bekennen als die
unmittelbar verwobene. Aber ich wünsche mir, dass das Versagen unserer Kirche, Menschen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens in unserem Land, ja in
unserer Kirche zu schützen vor Gewalt und Unrecht, eine Mahnung an uns heute ist, nicht wegzuschauen, sondern klar und widerständig einzutreten für
andere. Ich frage mich manchmal, wie wohl unsere Schuld von kommenden Generationen aufgearbeitet werden wird, etwa mit Blick auf Flüchtlinge, die aus
unserem Land abgeschoben werden …
Hilde Schneider ist einen ungeheuer schweren Weg gegangen in ihrem Leben. Mit Staunen und Bewunderung habe ich wahrgenommen, mit welcher Kraft sie das gemeistert hat, wie sehr ihr Glaube sie getragen hat. In der feindlichen Weite und Fremde, in Krieg, Unrecht und Gewalt hat ihr ihr Glaube Heimat gegeben. Viele haben nicht verstanden, wie sie dann nach dem Krieg Theologie studieren konnte, gegen die Widerstände kämpfte, die ihr Wunsch, als Frau ordiniert zu werden, ihr einbrachte. Sie hat ihre Berufung vertreten gegen diese Widerstände, sie hat Fremdheit und Einsamkeit ertragen. Manchmal heißt Christsein wohl auch, unverstanden leben, leider, und schmerzlich auch in der eigenen Kirche.
An solchen Lebensgeschichten wird mir immer wieder bewusst, dass unser Leben ein Fragment ist. Wir leben nicht vollkommen, nicht in Fülle, wir ringen und scheitern, und manchmal gibt es Gelingendes zu feiern. Unsere Beheimatung hier in dieser Welt ist eine sehr vorläufige, unsere kirchliche Beheimatung oft auch von Widerständen und Verletzungen begleitet.
Wir sehen das in der Geschichte, die Lukas von Jesus erzählt: Auch Jesus kommt nach Hause und wird nicht verstanden. Natürlich ist auch noch heute die
Sehnsucht nach Beheimatung und Verstandenwerden da, die viele Menschen umtreibt. Sind wir offen für Menschen auf der Suche, versuchen wir auch, anderen
ein Stück Heimat zu geben?
Die andere Frage richtet sich auf mich selbst: Was ist mein Platz im Leben? Wohin will ich gehen, was ist mein Ziel, wenn ich mir
bewusst mache, wie verletzlich, wie begrenzt mein Leben ist? Es gilt, sich Zeit für diese Fragen zu nehmen.
Und schließlich: Wir müssen unseren eigenen Weg finden im Leben, auch gegen Widerstände, und Gott um Mut für diesen Weg bitten. Dabei ist zu
akzeptieren, dass als Christ und Christin leben bedeuten kann, unverstanden zu sein, sich fremd zu fühlen. Ja, auch unser Leben bleibt Fragment. Auch
unsere Beheimatung ist nur eine vorläufige.
In der Mitte des Lebens werden wir aufmerksamer für das Leben und die Biografien anderer, wir lernen an ihnen, können an ihnen wachsen und die
Eigene gestalten. Um eigene Beheimatung geht es, um dankbares Erinnern unserer Wurzeln auch da, wo es Brüche gab und Schwierigkeiten. Beim Blick auf das
eigene Leben, den eigenen
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