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In der Strafkolonie

In der Strafkolonie

Titel: In der Strafkolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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oberflächlich erklärt hatte, auf ihn
    mache.
    Der Riemen, der für das Handgelenk bestimmt war, riß; wahr-
    scheinlich hatte ihn der Soldat zu stark angezogen. Der Offizier
    sollte helfen, der Soldat zeigte ihm das abgerissene Riemenstück.
    Der Offizier ging auch zu ihm hinüber und sagte, das Gesicht
    dem Reisenden zugewendet: »Die Maschine ist sehr zusammen-
    gesetzt, es muß hie und da etwas reißen oder brechen; dadurch
    darf man sich aber im Gesamturteil nicht beirren lassen. Für
    den Riemen ist übrigens sofort Ersatz geschafft; ich werde eine
    Kette verwenden; die Zartheit der Schwingungen wird dadurch
    für den rechten Arm allerdings beeinträchtigt.« Und während
    er die Ketten anlegte, sagte er noch: »Die Mittel zur Erhaltung
    der Maschine sind jetzt sehr eingeschränkt. Unter dem frühe-
    ren Kommandanten war eine mir frei zugängliche Kassa nur für
    diesen Zweck bestimmt. Es gab hier ein Magazin, in dem alle
    möglichen Ersatzstücke aufbewahrt wurden. Ich gestehe, ich
    trieb damit fast Verschwendung, ich meine früher, nicht jetzt,
    wie der neue Kommandant behauptet, dem alles nur zum Vor-
    wand dient, alte Einrichtungen zu bekämpfen. Jetzt hat er die
    Maschinenkassa in eigener Verwaltung, und schicke ich um ei-
    nen neuen Riemen, wird der zerrissene als Beweisstück verlangt,
    der neue kommt erst in zehn Tagen, ist dann aber von schlechte-
    rer Sorte und taugt nicht viel. Wie ich aber in der Zwischenzeit
    ohne Riemen die Maschine betreiben soll, darum kümmert sich
    niemand.«
    Der Reisende überlegte: Es ist immer bedenklich, in fremde
    Verhältnisse entscheidend einzugreifen. Er war weder Bürger
    der Strafkolonie, noch Bürger des Staates, dem sie angehörte.
    Wenn er die Exekution verurteilen oder gar hintertreiben wollte,
    konnte man ihm sagen: Du bist ein Fremder, sei still. Darauf
    hätte er nichts erwidern, sondern nur hinzufügen können, daß
    er sich in diesem Falle selbst nicht begreife, denn er reise nur
    mit der Absicht, zu sehen, und keineswegs etwa, um fremde Ge-
    richtsverfassungen zu ändern. Nun lagen aber hier die Dinge al-
    lerdings sehr verführerisch. Die Ungerechtigkeit des Verfahrens
    und die Unmenschlichkeit der Exekution war zweifellos. Nie-
    mand konnte irgendeine Eigennützigkeit des Reisenden anneh-
    men, denn der Verurteilte war ihm fremd, kein Landsmann und
    ein zum Mitleid gar nicht auffordernder Mensch. Der Reisende
    selbst hatte Empfehlungen hoher Ämter, war hier mit großer
    Höflichkeit empfangen worden, und daß er zu dieser Exekution
    eingeladen worden war, schien sogar darauf hinzudeuten, daß
    man sein Urteil über dieses Gericht verlangte. Dies war aber um
    so wahrscheinlicher, als der Kommandant, wie er jetzt überdeut-
    lich gehört hatte, kein Anhänger dieses Verfahrens war und sich
    gegenüber dem Offizier fast feindselig verhielt.
    Da hörte der Reisende einen Wutschrei des Offiziers. Er hat-
    te gerade, nicht ohne Mühe, dem Verur teilten den Filzstumpf
    in den Mund geschoben, als der Verurteilte in einem unwider-
    stehlichen Brechreiz die Augen schloß und sich erbrach. Eilig
    riß ihn der Offizier vom Stumpf in die Höhe und wollte den
    Kopf zur Grube hin drehen; aber es war zu spät, der Unrat floß
    schon an der Maschine hinab. »Alles Schuld des Kommandan-
    ten!« schrie der Offizier und rüttelte besinnungslos vorn an den
    Messingstangen, »Die Maschine wird mir verunreinigt wie ein
    Stall.« Er zeigte mit zitternden Händen dem Reisenden, was ge-
    schehen war. »Habe ich nicht stundenlang dem Kommandanten
    begreiflich zu machen gesucht, daß einen Tag vor der Exekution
    kein Essen mehr verabfolgt werden soll. Aber die neue milde
    Richtung ist anderer Meinung. Die Damen des Kommandanten
    stopfen dem Mann, ehe er abgeführt wird, den Hals mit Zuk-
    kersachen voll. Sein ganzes Leben hat er sich von stinkenden Fi-
    schen genährt und muß jetzt Zuckersachen essen! Aber es wäre
    ja möglich, ich würde nichts einwenden, aber warum schafft
    man nicht einen neuen Filz an, wie ich ihn seit einem Viertel-
    jahr erbitte. Wie kann man ohne Ekel diesen Filz in den Mund
    nehmen, an dem mehr als hundert Männer im Sterben gesaugt
    und gebissen haben?«
    Der Verurteilte hatte den Kopf niedergelegt und sah friedlich
    aus, der Soldat war damit beschäftigt, mit dem Hemd des Ver-
    urteilten die Maschine zu putzen. Der Offizier ging zum Reisen-
    den, der in irgendeiner Ahnung einen Schritt zurücktrat, aber
    der Offizier faßte ihn bei der Hand und zog

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